Graham zog fröstelnd die Schultern nach oben, als er hinaus auf die Veranda der Hayways trat. Es war noch zu früh, um zur Kirche auf zu brechen, doch seit ein paar Tagen trieb ihn rastlose Unruhe umher, so dass er nicht länger still am Frühstückstisch hatte sitzen können. Ohne eine Miene zu verziehen hatte er das geschmacklose Zeug, das ihm Witashnah vorgesetzt hatte, hinuntergekippt, und den pappigen Geschmack mit Kaffee hinuntergespült. Er wusste nie, ob sie ihm mit Absicht schlecht bekochte, oder ob sie es einfach nur nicht besser wusste. Allerdings fand er auch nicht, dass er ihre reine Geschäftsbeziehung durch Versuche aufbessern musste, freundlich zu ihr zu sein, schließlich gab sie sich ja umgekehrt auch nicht die Mühe. Und mit Schweigen und unfreundlichen Blicken hatte er soviel Erfahrung, dass er sie schon lange nicht mehr wahrnahm. Hayway dagegen lag auf seiner Wellenlänge und Graham dachte nicht daran, sich in die häuslichen Angelegenheiten der beiden ein zu mischen. Wenn Jethro nicht fand, dass er seinem Weib Manieren bei bringen musste, sollte es nicht Grahams Problem sein.
Das Wetter hatte sich nicht gebessert, aber zumindest heute würde das nicht für ihn bedeuten, den ganzen Tag im Sattel zu sitzen, und die Gegend um Camden ab zu reiten. Obwohl er langsam zurück zu einer gewissen Sicherheit im Umgang mit den Pferden des Sheriffs fand. Doch in den vergangenen Tagen war er meistens erst lange nach Anbruch der Dunkelheit zu Hause gewesen, so dass er kaum zu mehr als ein paar gebrummten Kommentaren in Bonnies Richtung kam. Von der Belohnung hatte er ihr erzählt, aber noch nicht von seinen Plänen. Die wollte er nämlich nicht vor Jethro ausbreiten, zumindest nicht solange er nicht mit Bonnie darüber geredet hatte.
Also nutzte er den Vorwand nach draußen zu gehen und sich eine Zigarette an zu stecken, in der Hoffnung, Bonnie würde ihm schon folgen. Über den Betrag des Geldes für die Waltongang hatte er ihr noch nichts gesagt, aber das war auch gut so, denn so würde sie nicht bemerken, dass er einen Teil des Geldes bereits in eine Privatangelegenheit investiert hatte. Seine Nacht mit Megan vor zwei Tagen hatten ihm eine Menge süßer Erinnerungen beschert, auch wenn er feststellte, dass der zufriedene Zustand nur sehr kurz anhielt. Aber auch wenn es ihn reizte, wieder in den Saloon zu gehen, und ihre Dienste von neuem in Anspruch zu nehmen, so versagte er sich den Impuls doch eisern.
Zumindest war er in der Lage gewesen für ein paar Stunden Michael und seine anderen Sorgen zu vergessen. Die letzten zwei Nächte waren jedenfalls die ersten seit sehr langer Zeit, die er auch durchgeschlafen hatte. Darüber war es ihm ja beinahe egal, ob seine Schwester bemerkt hatte, dass er sich am Samstag in aller Herrgottsfrühe wie ein Verbrecher wieder hereingeschlichen hatte, um dann wie ein Toter ins Bett neben dem ihren zu fallen. Leider war es jetzt nicht mehr so einfach, die ständig über ihnen hängende Bedrohung zu ignorieren. Nachdenklich sah er hinüber zu seinem ehemaligen Zu Hause, wo noch keine Lichter brannten. Bisher war alles ruhig geblieben, Michael zeigte kein Anzeichen, sein Gedächtnis wieder zu entdecken. Aber diesmal traute Graham der Ruhe nicht. Das hatte er schon einmal getan, als sie alle Michael für tot gehalten hatten. Ganz sicher würde er nicht denselben Fehler zweimal machen. Über die Schulter warf er einen Blick in die Stube, ob Bonnie Anstalten machte, ihm zu folgen.
Das Gespräch am Frühstückstisch hatte sich, wie so oft, auf das Nötigste beschränkt. Kein Wunder, wo doch die Leute an Hayways Tisch alle nicht gerade bekannt dafür, dass sie große Reden schwangen. Wobei sich Bonnie bei der Squaw noch immer nicht ganz sicher war, ob sie Englisch konnte. Was sie jedenfalls nicht konnte war Kochen. Zumindest nicht überragend. Aber vielleicht sollte sie sich nicht beklagen, denn so schlecht, dass sich Bonnie selbst freiwillig an den Herd gestellt hätte, war es auch nicht. Ein kalter Luftzug wehte durch den Raum, als Graham sich nach draußen verzog. Zum Rauchen vermutlich. Ohne Hast trank sie ihren Kaffee aus und folgte dem Bruder nach draußen.
Wie erwartet hatte er sich bereits eine Zigarette angesteckt. Ohne ein Wort stellte sie sich neben ihn und folgte mit den Augen seinem Blick in Richtung des Nachbarhauses. Michael. Würden sie jemals aufhören, sich seinetwegen zu sorgen? Wahrscheinlich nicht. Höchstens, wenn er unter der Erde lag. Diesmal wirklich. Denn dass ein vermuteter Tod des Vaters keine Beruhigung darstellte, hatten sie ja letzten Herbst feststellen müssen. Vielleicht wäre ja auch Michaels verlorenes Gedächtnis eine Beruhigung, wenn sie wüssten, dass es so bleiben würde. Bisher sah es ja so aus, aber sicher konnten sie nicht sein. „Ich hab ihn vor'n paar Tagen getroffen“, begann sie unvermittelt mit einem Nicken in Richtung Nummer 4. Sie hatte Graham noch nichts von der Begegnung mit Michael erzählt. Die Geschichte mit Harding und Grahams Schusswunde hatte es schlichtweg aus ihrem Gedächtnis gefegt und in der letzten Woche hatten die Zwillinge kaum mehr als ein paar Worte gewechselt, wenn Graham dann spät abends nach Hause gekommen war. Vielleicht war auch jetzt nicht unbedingt der passende Zeitpunkt, davon zu erzählen, aber sie ahnte, dass ihr Bruder sauer sein würde, wenn sie gar nichts sagte. Und was, wenn er nachher im Gottesdienst mit Victor sprach und der irgendetwas in die Richtung sagte? Nein. Dann besser jetzt raus damit. „An dem Tag wo alle nach Harding gesucht haben. Er hat wohl abgepasst, bis du weg warst und hat mich dann auf der Straße erwischt.“ Mit einem Seitenblick versuchte sie, die Reaktion ihres Bruders abzuschätzen. Nicht, dass er überreagierte und gleich in der Kirche den Aufstand probte, wenn er Michael sah. Oder jetzt gleich ins Nachbarhaus ging, um den Vater zur Rede zu stellen... Vielleicht hätte sie doch warten sollen.
Graham sah nicht zur Seite, als er leise Schritte im frischen Schnee neben sich auf der Veranda hörte. Stattdessen rollte er die zweite Zigarette zwischen den Fingern und hielt sie ihr hin. Wahrscheinlich eine der letzten für die nächste Zeit, denn der Tabak im Gemischtwarenladen war schon vor Tagen ausgegangen. Einen Augenblick herrschte einvernehmliches Schweigen. Eine von Bonnies angenehmen Seiten, sie musste nicht ständig über Belanglosigkeiten reden. Doch die Stille war trügerisch. Schon ihre nächsten Worte schlugen ein wie ein Donnerschlag. „Was? Wieso sagst du mir das erst jetzt?“ fuhr er auf und musterte sie scharf. Doch hätte Michael Anzeichen gezeigt, sein Gedächtnis wieder zu finden, dann hätte sie nicht solange gewartet, oder? „Der Drecksack hat dich doch nich' angerührt?“ erkundigte er sich gepresst. Die Wut ließ ihn schon mit den Zähnen knirschen. Abgepasst hatte er sie also? Gewartet bis sie alleine war und er sie nicht beschützen konnte. Die Versuchung los zu marschieren und Michael eins auf die Nase zu geben, war beinahe übermächtig. Die Wut war schon früher dagewesen, aber damals hatte die Furcht sie noch im Zaum gehalten. Aber jetzt waren sie auf einer Augenhöhe. Michael konnte ihn nicht mehr an der kurzen Leine halten. Vielleicht war ein Stoß über die Klippe alles gewesen, was es gebraucht hatte, um sich zu befreien. Zumindest schien er sich soweit beherrscht zu haben, Bonnie tatsächlich nichts zu tun. Sie war ja unverletzt, also beruhigte er sich soweit nicht sofort los zu stapfen. „Was wollte er?“ fragte er unwillig, sein Misstrauen schon auf zu geben. Wenn es von Michael stammte, konnte es kaum gut sein. Geistesabwesend blickte er in Richtung Main Street und sah dort eine zierliche Gestalt aus dem neuen Saloon treten. Das brachte ihm schlagartig in Erinnerung, dass er es gestern endlich ins Cafe der Browns geschafft hatte, um sich um die Angelegenheiten zu kümmern, um die Nevada gebeten hatte. „Hey, da ist Ms. Rose. Mit der hab' ich noch was zu klären. Wenn wir uns beeilen holen wir sie noch ein.“ meinte er zu Bonnie und trat die Treppenstufen der Veranda hinunter. „Reden wir später weiter.“ Michael würde ihnen wohl leider nicht den Gefallen tun, sich einfach in Luft auf zu lösen.
TBC: [Mainstreet / Umgebung] - Die Hauptstraße
OOC: Ich bin mal so frei und nehm' dich mit Schwesterchen.