Das kleine Dachzimmer dient eigentlich als Zimmer für die Angestellten, abeer bei Überbelegung wird das schlichte Zimmer schon mal gerne mitvermietet. Ein Einzelbett steht an der Wand, der Tür gegenüber. Eine hüfthohe Kommode bietet Platz für Wäsche und Kleider. Ein Stuhl, ein kleines Tischchen und ein neuer Läufer zieren den restlichen Raum. Eine Waschschüssel befindet sich auf dem Tischchen, so wie eine Öllampe auf dem Nachttisch.
Still dankte Sophie dem Herrn dafür, dass ihr auf der Treppe keine Gäste entgegenkamen, denn mit der Krücke in der Hand wäre es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, dem Gegenverkehr aus zu weichen. Gleich darauf schalt sie sich dafür, für derlei Kleinigkeiten und Wehwehchen den Allmächtigen angerufen zu haben. Ms. Farley hatte ihre Fähigkeiten eindeutig überschätzt, stellte sie fest, denn jede Treppenstufe war ihre eigene Herausforderung, so dass sie sich mit der anderen Hand am Geländer festhalten musste. Im ersten Stock angekommen blieb sie erst einmal stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sophie besaß von Natur aus keine sonderlich guten Widerstandskräfte. Im Winter hatte sie häufig mit Fieber und Grippe zu kämpfen und fiel oft tagelang aus. Doch dass ihr Körper ihr nun auf andere Art den Gehorsam verweigerte, war auf eine gänzlich neue Art frustrierend. Sie biss die Zähne zusammen und begann die zweite Treppe zu erklimmen.
Miss Hunter war sie bisher nur ein paar Mal begegnet, zum letzten Mal, als die Frau ihr eine heiße Schokolade aufgezwungen hatte. Natürlich hatte sie nicht den Becher an Sophies Lippen gepresst und ihr die Nase zugehalten, um die Flüssigkeit hinein zu bekommen, aber sie hatte kaum Raum für Widerstand gelassen, an einem Tag, an dem Sophie noch vorgehabt hatte ihrem Leben ein Ende zu setzen. Das nahm sie der Frau wirklich übel, auch wenn Cassidy an dieser Sache auch nicht unbeteiligt gewesen war. In Ruths Zimmer war sie bereits ein paar Mal gewesen, also blieb nur die Tür auf der gegenüberliegenden Seite übrig. Sophie atmete tief durch, als sie endlich oben angekommen war, damit sie nicht ganz so erhitzt und erschöpft wirkte, wenn Miss Hunter, die Tür öffnete. Auch nahm sie sich die Zeit, die losen Locken am Hinterkopf wieder so zu drapieren, dass sie die fehlende Ohrmuschel geschickt verdeckten, bevor sie die schmale Faust hob und zögerlich gegen die Tür klopfte. „Miss..“ Sie räusperte sich, weil ihre Stimme viel zu leise war. „Miss Hunter? Sind Sie da?“ Vielleicht hatte sie ja Glück und Miss Hunter war bereits hinunter gegangen.
Emily hatte in dieser Nacht schlecht geschlafen, wie schon in jeder der vorigen Nächte, seitdem sie mit John... seit dem Vorkommnis, bei dem sie zu allem Überfluß auch noch entdeckt worden waren und die junge Haushälterin zum ersten Mal in ihrem Leben aus purem Schreck und Scham ohnmächtig geworden war. Jede Nacht hatte sie in ihrem kleinen Kämmerchen wachgelegen, geweint und gebetet. Die Erinnerung an ihre Sünde hatte sie nicht zur Ruhe kommen lassen, sie hatte sie sogar den Schrecken ihrer Entführung und der rohen Behandlung durch die Banditen beinahe vergessen lassen. Die rundliche Britin schämte sich, sie war verzweifelt und wußte weder ein noch aus, hatte sich aber zugleich noch nicht getraut, irgend jemandem zu beichten, was sie bedrückte. Wie hätte sie auch gekonnt! Noch immer wußte sie nicht, wer sie und den Sheriff in flagranti erwischt hatte, hatte sie doch fast sofort die Besinnung verloren, als es geschehen war. Und mit John darüber zu sprechen, wobei sie ihn danach hätte fragen können, hätte sie niemals fertiggebracht. Jeden Tag seitdem hatte sie daher angstvoll in den Mienen derer geforscht, die sie umgaben, um herauszufinden, ob sie vielleicht von einem von ihnen mit besonderer Verachtung oder Abscheu betrachtet wurde. Die Vorwürfe, die sie sich machte, erschwerten der jungen Frau alles noch zusätzlich. Und als sei dies alles noch nicht genug, fühlte sie bei der Erinnerung an die Unzucht, die sie getrieben hatten, jedesmal wieder dieses angenehme Kribbeln im Bauch und das seltsame Verlangen zwischen ihren Schenkeln – ein Grund mehr, alle erdenklichen Höllenqualen zu fürchten, wie sie jene erwarteten, die sich der Fleischeslust hingaben.
Und was diese war, das wußte Emily genau – seit wenigen Tagen. Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, schauten ihr Augen mit Ringen darunter entgegen, ein müdes, abgespanntes Gesicht, dessen pausbäckige Wangen nicht mehr rosig strahlten wie sonst, sondern regelrecht eingefallen wirkten – zumindest für die Verhältnisse der drallen kleinen Frau. Selbst ihre Haare, für gewöhnlich ihr ganzer Stolz, waren wirr und wirkten stets ganz aufgelöst, wie sie fand. Ihr kam gar nicht der Gedanke, daß es vielleicht daran liegen mochte, wieviel Zeit sie zuvor ganz unbewußt darauf verwendet hatte, sich jeden Tag hübsch zu machen, soweit es ihr möglich war – für John. Jetzt dagegen war sie wieder in die Gewohnheiten zurückgefallen, die sie vor ihrer Bekanntschaft mit Clayton gepflegt hatte. Ja, sie gab sich im Gegenteil noch biederer und unscheinbarer als je zuvor. Die Spitzenkragen für ihre Blusen waren genauso in der Schublade verschwunden wie die anderen kleinen Accessoires, mit denen sie sich geschmückt hatte. Kaum konnte ihr ein Kleid nunmehr schlicht genug sein, und erneut war ihr der eigene, allzu wohlgerundete Körper peinlich. Aus ihrer vorigen Sicht betrachtet ließ sich die junge Frau geradezu gehen, was ihr Äußeres anging. Nicht daß sie ihre Reinlichkeit und ihre Ordnungsliebe vergessen hatte. Emily trat noch immer gepflegt und sauber auf wie eh und je, ihre Schürzen strahlten an jedem Morgen weiß und frisch gestärkt. Doch im Vergleich zu der geradezu übermütigen kleinen Haushälterin von vor wenigen Tagen war sie jetzt eine graue Maus. Sie wollte nicht auffallen, nicht wahrgenommen werden, glaubte sie doch, jeder Mensch sähe ihr an, daß sie mit einem Mann... eben dieses getan hatte, ohne vor Gott seine Frau zu sein.
An diesem Morgen stand sie weit später noch vor ihrem winzigen Spiegel, als sie es eigentlich vorgehabt hatte. Disziplin war in ihrem Leben immer groß geschrieben worden, und sie hatte sich in den letzten Tagen immer dazu gezwungen, so früh wie gewohnt aufzustehen, um ihre Pflichten zu erledigen, obwohl sie kaum mehr schlief. Ja, sie hatte sich sogar regelrecht in die Arbeit gestürzt, half ihr die Ablenkung durch ihre alltäglichen Aufgaben doch dabei, zumindest am Tag das furchtbare Schuldgefühl zu vergessen. Heute aber machte sich die Müdigkeit zum ersten Mal bemerkbar. Ihre sonst so geschickten Finger waren einfach nicht mit ihrem zerzausten Haar klargekommen, waren einfach zu fahrig gewesen. Und schließlich hatte sie kapituliert und ihre nußbraunen Locken mit einem schlichten Tuch gebändigt, wie sie es sonst nicht getragen hätte, war sie doch immer stolz auf ihre Lockenpracht gewesen. Heute jedoch war sie einfach nur froh, die widerspenstigen Strähnen auf diese Weise gebändigt zu haben. Mit einem lautlosen Seufzer betrachtete sie sich im Spiegel. Sie fühlte sich so leer und ausgelaugt... doch ganz unvermittelt ertönte ein Klopfen an der Tür, begleitet von einer weiblichen Stimme, und die junge Frau schrak zusammen. Himmel! Sie hatte doch versprochen, heute im Gästehaus zu helfen! Gewiß war sie schon viel zu spät dran! Und nun stand Miss Farley vor der Tür, oder Mrs. Cornwell, um sie zu ermahnen! Beide Frauen waren für Emily Respektspersonen, und es war ihr unendlich peinlich, nun auch noch als pflichtvergessen dazustehen. Denn wie hätte sie einer der beiden vom Grund ihrer Zerfahrenheit erzählen können, ohne vor Scham im Boden versinken zu müssen?
Das war es, was ihr fehlte: Die Aussprache mit einem erfahreneren weiblichen Wesen. Aber sie konnte sich einfach nicht dazu überwinden, sich einem anderen Menschen zu offenbaren. Zu sündig und zu schändlich war, was sie getan hatte! Und so würde ihr wohl nur bleiben, weiterhin die Zähne zusammenzubeißen, wieder ein tugendhaftes Leben zu führen und Gott um Vergebung zu bitten, so schwer ihr dies alles auch fallen würde. Zumal wenn sie John als dessen Haushälterin immer und immer wieder über den Weg laufen mußte. Aber kündigen..?! Mit einem erneuten Seufzer und einer hektisch zitternden Hand griff die kleine Haushälterin nach ihrer frischen Schürze für heute, legte sie an und band eilig eine ordentliche Schleife, während sie Richtung Tür ging. Rasch zupfte sie das ungewohnte Kopftuch noch einmal zurecht, wischte unsichtbare Stäubchen von ihrem Kleid und hoffte, sie biete keinen allzu unordentlichen Anblick. Dann öffnete sie die Tür, und auch ihren Mund, bereit, eine Entschuldigung vorzubringen, sowie das Versprechen, sie werde ihre Saumseligkeit mit besonderem Fleiß ausgleichen. Doch die Worte blieben ihr vorerst im Halse stecken, als sie das junge Mädchen vor sich stehen sah. Sophie..? Ja, genau, so hieß sie. Emily hatte sie nicht sehr oft gesehen und kaum je viele Worte mit ihr gewechselt. Einige Male blinzelte Emily und fiel wieder in ihre Gewohnheit zurück, ihre nervösen Hände mit der Schürze zu beschäftigen, was ein leises Rascheln des steifen Stoffs zur Folge hatte. Dann räusperte sie sich. "Oh, guten... guten Morgen, mein Kind. Ich..." Sie versuchte ein Lächeln, dem jedoch die übliche ruhige Wärme fehlte. Es wirkte eher entschuldigend. "...ich bin schon unterwegs. Miss Farley hat wohl bereits nach mir gefragt..." Schuldbewußt preßte sie die Lippen zusammen. Mit ihren eigenen Nöten beschäftigt, bemerkte sie zunächst überhaupt nicht die Krücke Sophies, ein Anblick, der sie sonst wohl sofort zu einer mitfühlenden Reaktion veranlaßt hätte.
Im Kopf zählte Sophie die verstreichenden Sekunden. Wie lange war eine angemessene Zeitspanne, um sicher zu gehen, dass man auch gehört worden war. Zögerlich hob sie die Faust, um erneut zu klopfen, kam sich dabei aber schrecklich unhöflich vor. Immerhin gehörte es sich nicht jemanden zu drängen. Doch ein Rascheln hinter der Tür kündete davon, dass tatsächlich jemand da war. Dann öffnete sich die Tür und Miss Hunter erschien. Verblüfft stellte Sophie fest, dass die ältere Frau nur wenig größer als sie selbst war. Irgendwie hatte sie die Frau beeindruckender in Erinnerung. Wahrscheinlich weil sie das letzte Mal eine Bedrohung dargestellt hatte. Unwillkürlich ertappte sie sich bei der Hoffnung, sie würde noch ein Stückchen wachsen. Bisher war die Natur nicht allzu großzügig mit ihr gewesen, aber sie hoffte, das würde sich noch ändern. Es wäre schön, endlich nicht mehr die kleine Sophie zu sein, auf die man herabsah.
Viel wusste sie nicht über diese Emily, nur dass sie auch als Haushälterin bei den Claytons eingestellt war und aus England stammte. Das war auch nicht schwer aus zu machen, denn als Miss Hunter sie grüßte, hörte Sophie den unvertrauten Akzent, der die Worte viel klarer und schärfer betonte, als sie das gewöhnt war. Es war ihr vorher nur noch nicht so stark aufgefallen, weil sie mit den Gedanken woanders gewesen war. So ganz schien Ms. Hunter auch nicht mit ihr gerechnet zu haben, denn sie hatte bereits den Mund geöffnet um etwas zu sagen, schien doch jedoch zurück zu rudern und Sophie hätte wetten können, dass der Gruß, der dann heraus kam, so ursprünglich nicht angedacht gewesen war.
Eigentilch hatte sie keinen Grund, die Engländerin nicht zu mögen. Es wäre ein Zeichen von Reife gewesen, die grundlose Antipathie, die sie zuvor empfunden hatte, ziehen zu lassen. Das sagte sich Sophie krampfhaft, und hatte auch die besten Absichten, doch die verschwanden schlagartig, als Miss Hunter sie mit "mein Kind" ansprach. Demonstrativ wanderten ihre Augenbrauen nach oben und bevor sie sich davon abhalten konnte, musterte sie die Frau noch einmal gründlich von Kopf bis Fuß, so als wäre ihr just in diesem Augenblick aufgefallen, dass die Engländerin gar nicht so viel älter war als sie selbst. Abgesehen davon, dass Sophie hier die Dienstältere war. Die alte Sophie hätte es wahrscheinlich stillschweigend hingenommen, den Kopf noch tiefer gesenkt und einfach nichts gesagt. Doch aus irgendeinem Grund gelang es ihr nicht, wieder zur alten unterschwellig vorwurfsvollen Art zurück zu kehren. Doch jetzt setzte sie ihr süßestes und falschestes Lächeln auf und machte ganz langsam einen sehr tiefen Knicks, um Emily zu verhöhnen. Es tat richtig weh und Sophie nahm sich die Freiheit, das Gesicht schmerzvoll zu verziehen. "Entschuldigen Sie, Miss Hunter." bat sie dann - gespielt reumütig - ganz so als würde die andere Frau meilenweit über ihr Selbst stehen, vor der es zu Kriechen galt. "Es ist wegen der Vorbereitungen für das Fest. In der Küche und im Speisesaal brauchen wir da jede Hand." Kein Hauch von Herablassung in ihrer Stimme, darauf war Sophie stolz. Trotzdem legte ihre Wortwahl nahe, dass sie sich bereits Gedanken um die Organisation des Festes gemacht hatte, während Emily auf der faulen Haut lag. Das war zwar nicht die Wahrheit, aber Sophie war bereit, dass großmütig zu ignorieren.
Die Reaktion des Mädchens machte Emily ganz perplex. Im ersten Moment war sie freudig überrascht – dies war das erste Mal, daß sie eine junge Frau hier in diesem fürwahr modernen, aber leider auch wenig sittenstrengen Land einen so ordentlichen Knicks machen sah. Ihr, die sie von Kindesbeinen an zu Höflichkeit und Etikette erzogen worden war, tat es einfach gut, eine derart wohlerzogene Person zu sehen. Sie war auch schon im Begriff, ihr mit einem warmen Lächeln zuzunicken, als ihr auffiel, wie übertrieben diese Geste in ihrer momentanen Situation war. Für Emily selbst wäre ein Knicks anstelle Sophies eine beinahe selbstverständliche Höflichkeit gewesen, die sie gezeigt hätte, ohne viel darüber nachzudenken. Doch die Menschen hier – auch die jungen Menschen – hatten diesbezüglich ganz andere und sehr viel nachlässigere Ansichten als zuhause in London. Man merkte es ja schon an ihrer undeutlichen Aussprache, an den vielen Freiheiten, die jeder genoß. Zuviel für Emilys konservativen Geschmack. Zuwenig Zucht, zuwenig Respekt voreinander. Alles das hatte sie verwirrt und ihr Angst gemacht, seit sie den Fuß auf diesen Kontinent gesetzt hatte, der ihr in gewissen Dingen noch immer fremd geblieben war. Wo sie also in London davon hätte ausgehen können, daß die junge Frau ihr gegenüber einfach höflich sein wollte, wenn sie ihre Worte so unterwürfig wählte und so tief knickste, mußte sie hier... ja, was mußte sie von Sophies Reaktion halten? Sie wußte es einfach nicht!
Für gewöhnlich war Emily eine sehr sensible Person, empfänglich für die Stimmungen ihrer Mitmenschen. Und auch jetzt spürte sie ganz intuitiv die Ablehnung, die ihr das Mädchen entgegenbrachte. Doch warum nur?! Emily zermarterte sich das Hirn, doch ihr wollte einfach nicht einfallen, wann und womit sie dem Kind einen Grund gegeben haben konnte, ihr so feindselig gegenüberzustehen. Im Traum wäre ihr nicht eingefallen, daß sie mit ihrer Anrede schon Sophies Widerwillen geweckt hatte. Emily hatte sich als Dienstmädchen von ihrer Herrschaft stets als "Kind" oder "Mädchen" tituliert gesehen, selbst wenn die jungen Herrschaften – Söhne und Töchter ihrer Dienstherren – sogar jünger gewesen waren als sie selbst. Sie war gewohnt, sich unterzuordnen, und sie sah Unterordnung und die Befolgung strikter Regeln als etwas vertrautes, das ihr Sicherheit und Geborgenheit vermittelte. Letzten Endes, davon war sie felsenfest überzeugt, beruhte die Stabilität einer Gesellschaft darauf, daß jeder Mensch sich an dem Platz in sie fügte, an den ihn der Herrgott gestellt hatte, mochte es nun als Herr oder Diener, als Mann oder Frau, als Reicher oder Armer sein. Sie konnte daher beim besten Willen gar nicht nachvollziehen, was die junge Frau empfand.
Hinzu kam, daß sie völlig übermüdet war und ihr Herz noch immer schwer von den Selbstvorwürfen, die sie die halbe Nacht über wachliegen ließen. Mit einer fahrigen Geste fuhr sie sich über das Haar – fühlte das ungewohnte Kopftuch, das bei ihrer Bewegung verrutschte, zupfte es umständlich wieder zurecht, wußte dann plötzlich nicht mehr, wohin mit ihren Händen, fing wiederum an, an ihrer gestärkten Schürze herumzuzupfen und ihre Finger hineinzukrampfen. Die kleine Haushälterin fühlte selbst, wie sie immer nervöser wurde, fast als sei das Mädchen vor ihr die gnädige Frau, und sie hätte ein teures Porzellangeschirr fallen lassen, was sie nun unter den strengen Augen der Besitzerin erklären mußte. Es gab eigentlich gar keinen Grund für ihre Zerfahrenheit, doch es war einfach alles zuviel für sie. Die Müdigkeit, ihre Sorgen um John, die Qual ihres schlechten Gewissens, die Strapazen ihrer Entführung, die sie noch nicht verarbeitet hatte, das alles schlug über ihr zusammen wie eine riesige Welle. Emilys Selbstbewußtsein war im Moment so gut wie nicht vorhanden. So blinzelte sie nur noch mehrere Male verwirrt und hilflos, senkte schließlich den Kopf und machte fast den Eindruck, als hätte Sophie sie soeben gescholten. "Ja, sicherlich. Ich... ich komme schon. Es tut mir leid... also... weil Miss Farley bestimmt…" Sie schluckte und strich sich mit automatisch wirkenden Bewegungen die Schürze wieder glatt. Dann sah sie wieder auf, und ihr Blick hatte etwas Gequältes. "Ich sollte mich wohl beeilen..." Ihr Murmeln war kraftlos, aber es kam ihr leichter über die Lippen als die vorigen Worte. Ja, Arbeiten, Hausarbeit – die war jetzt ihre Freundin, in sie sollte sie sich gleich wieder stürzen, Müdigkeit hin oder her. Sie allein versprach zeitweiliges Vergessen.
Ungeduldig wartete Sophie darauf, dass ihre gar nicht so unterschwelligen Beleidigungen zur Kenntnis genommen wurden. Sie war nicht gerade stolz darauf, aber wenn es zur Abwechslung mal sie selbst war die mit voller Absicht auf den Gefühlen ihrer Umwelt herumtrampelte, dann konnte sie das durchaus genießen. Zufrieden nahm sie dann zur Kenntnis, dass Miss Hunters Züge deutliche Verwirrung widerspiegelten und sie sichtlich hilflos gegenüber Sophies Spott war. Erst bei näherer Betrachtung fiel dem jungen Mädchen auf, dass trotz der leicht geröteten Pausbäckchen tiefe dunkle Ringe unter den Augen der jungen Frau lagen und ihre Bewegungen so fahrig wirkten, dass es unmöglich nur ihr kleines Ränkespiel gewesen sein konnte, dass die Frau so durcheinander gebracht hatte. Widerwillig entließ sie Miss Hunter aus ihrem fragenden Blick und neigte den Kopf etwas zur Seite, so dass sie – wie üblich auf einen fernen Punkt starren und niemanden ansehen konnte. Dabei dachte sie nach. Empfand sie tatsächlich Reue für ihr Verhalten von gerade? Eigentlich ja nicht, aber da sie die andere Frau geradezu herausgefordert hatte, hatte sie sich nicht zügeln können. Man hatte ihr beigebracht, immer demütig und bescheiden zu sein, sich im Hintergrund zu halten und am besten nur zu Sprechen, wenn man sie etwas fragte. Diese Regeln hatte sie perfekt gelernt und sie hasste jeden einzelnen Augenblick davon. Doch sie konnte sich nicht gegen das Korsett aus Regeln, in das man sie eingeschnürt hatte, befreien. Wäre sie doch nur wie Cassidy, dann wäre es bestimmt ganz einfach. Stattdessen blieb ihr nichts anderes übrig als Flucht in Hinterhältigkeiten zu suchen.
„Ähm wie bitte?“ erkundigte sie sich und blinzelte, als ihr klar wurde, dass Emily gerade etwas gesagt hatte und sie nicht die geringste Ahnung hatte, was. Ruckartig bewegte sie ihren Kopf zurück, um Emily zu betrachten. Es war sinnlos einen Versuch zu unternehmen, die Situation zu retten, also beließ sie es bei betretenem Schweigen und kaute auf ihrer Unterlippe, während sie Miss Hunters immer fahriger werdendes Gebaren beobachtete. Langsam fing sie an, die Haushälterin merkwürdig zu finden, obwohl sie die Letzte auf dieser Erde war, die das über jemanden anderes sagen würde. Trotzdem konnte sie eine Spur Neugierde nicht zurück drängen, weswegen sie sich etwas zur Seite lehnte und an Emily vorbei in die Kammer spähte, als könnte sie dort die Antwort auf das Rätsel erspähen. Doch das wenige was sie ausmachen konnte, gab ihr wenig Aufschluss. Mit einem innerlichen Seufzen gab sich Sophie einen Ruck und richtete die klaren blauen Augen wieder auf die dralle Haushälterin vor ihr. „Ist … alles in Ordnung mit Ihnen, Miss? Sie wirken ein wenig...“ Sie suchte nach einer höflichen Umschreibung. „...blass.“ Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wurde ihr klar, wie bizarr sie wirken mussten, hatte sie sich doch selbst nur mit Mühe die Treppen hinauf geschleppt und war immer noch außer Atem. Ein zusammenhangsloses Kichern kam über ihre Lippen und sie presste rasch eine Hand auf den Mund, als könnte sie den Laut dadurch zurückholen.
Irgendwie fühlte sich Emily ertappt, als das Mädchen versuchte, an ihr vorbei in ihr kleines Kämmerchen zu spähen. Zwar gab es dort nichts zu sehen außer den wenigen Einrichtungsgegenständen und ihren spärlichen Habseligkeiten, penibel sauber gehalten und geordnet, doch trotzdem war es der kleinen Haushälterin seltsam unangenehm, sich als offensichtlichen Gegenstand von Sophies Neugier zu sehen. Einmal mehr fragte sie sich panisch, ob man ihr ansehen konnte, was sie dachte und empfand. Unwillkürlich zog sie ihre Schürze samt der darunter liegenden Röcke mit beiden Händen straff und preßte die Beine eng zusammen. Sie hatte die unsinnige, aber nichtsdestotrotz beängstigende Empfindung, der Blick des Mädchens könne durch die Lagen von Stoff dringen und dort auf eine geheimnisvolle, magische Weise erkennen, was die junge Britin getan, was sie gefühlt und wie sie gesündigt hatte. Sie war so voller Furcht vor einer Bloßstellung – es hätte sie nicht gewundert, wenn ihr das Mädchen nun auf den Kopf zugesagt hätte, daß sie Unzucht getrieben hatte! Ja, schlimmer noch, daß sie die Sünde genossen hatte und daß sie irgendwo dort in ihrem Unterleib noch immer ein feines Nachklingen des Feuers zu spüren glaubte, mit dem der Sheriff sie erfüllt hatte. Die furchtbare, aber nicht zu leugnende Sehnsucht, es noch einmal zu erleben, in dem vollen Bewußtsein, wie sehr sie damit gegen göttliches Gebot und menschlichen Anstand verstieß – was, wenn ein empfindsamer oder wissender Mensch, eine andere Frau, es ihr tatsächlich am Gesicht ablesen konnte?!
Schon der prüfende Blick Sophies ließ einen Panikanfall in ihr aufsteigen, in dessen Folge die Umgebung für einen Moment vor ihren Augen verschwamm. Und dann hörte sie wie aus weiter Ferne auch noch die Frage nach ihrem Wohlbefinden! Himmel, war sie wirklich derart blaß?! Verzweiflung begann in ihr aufzusteigen. Wie recht hatte doch ihre arme Mutter selig gehabt – jede Sünde strafte sich selbst! Und so wie sie die Demütigung fürchtete, die ein Bekanntwerden ihrer Verfehlung mit sich bringen mußte, so schien sie auch auf dem besten Wege zu sein, eben dieses Sündigen zu verraten, durch ihr eigenes Verhalten, ohne es zu wollen. Ein wenig zittrig nahm Emily eine Hand von der Schürze – aber nur eine, die andere blieb wie festgeklebt in den Stoff gekrampft – und legte sie beteuernd auf die Brust. Schon öffnete sie den Mund, um zu widersprechen, zu versichern, es gehe ihr blendend, so wenig überzeugend das auch wirken mußte. Da blieb ihr die gespielte Unbekümmertheit im Halse stecken. Sophie begann ganz plötzlich zu kichern, ohne einen ersichtlichen Grund. Oder war sie, Emily selbst, der Grund..? Unsicher schaute sie das Mädchen an und wünschte sich ein Mauseloch, in dem sie hätte verschwinden können.
Es half aber alles innerliche Beten und Flehen nichts. Sie hatte gesündigt und mußte nun wohl die Strafe auf sich nehmen – mit ihrem schlechten Gewissen leben, und womöglich auch mit öffentlicher Schande. Sie senkte den Blick und räusperte sich. Der Ton klang ein wenig piepsig, und auch ihre Stimme war ungewohnt leise und kraftlos, mehr ein Murmeln. "Mir geht es gut, alles in Ordnung. Aber danke der Nachfrage. Wirklich, alles... alles in Ordnung." Unsicher tastend langte sie hinter sich nach dem Türknauf, trat noch einige zögerliche Trippelschrittchen vorwärts und machte Anstalten, die Tür hinter sich zu schließen. "Ich will Miss Farley nicht warten lassen. Es ist ja schon recht spät, nicht..?" Mit einem scheuen Lächeln streifte sie das Gesicht des Mädchens. Dessen Gekicher hatte sie noch mehr verunsichert. Gequält fragte sie sich wohl zum tausendsten Mal, wann das Damoklesschwert über ihrem Kopf fallen, wann ihr Geheimnis entdeckt werden würde. Wehmütig dachte sie zurück an die Zeit, als sie noch in London als Dienstmädchen gearbeitet hatte. Bei weitem nicht so viele Freiheiten wie nun, als richtige Haushälterin, hatte sie gehabt. Aber aus ihrer jetzigen Sicht erschien ihr diese Zeit als eine der Unschuld, in der sie sich nach getaner Arbeit noch unbeschwerten Gewissens zum Schlafen hatte legen können. Ja, damals war es auch gewesen, als ihr die junge Miss erklärt hatte, was ein Damoklesschwert war. Aber sie hatte das Gefühl, erst heute wüßte sie es wirklich...
Der Blick in das Zimmer erwies sich als wenig aufschlussreich, da war die Reaktion der Haushälterin viel interessanter. Sie versteifte sich noch mehr, so als hätte sie Mühe, still zu stehen und ein Hauch von Neugier lag in ihrem Blick als sie ihren Blick von der kargen Einrichtung der Frau löste, um stattdessen auf ihre verkrampften Hände zu starren, die sie auf hüfthöhe vor sich verschränkt hielt und deren Knöchel weiß hervortraten. Sie konnte sich wenig Reim auf das merkwürdige Verhalten machen. Zwar hatte sie ihr möglichstes getan, die Engländerin vor sich zu verunsichern, aber mit echtem Erfolg hatte sie nicht gerechnet. Schon gar nichts so durchschlagendem. Sophie nahm sich die Zeit, zu sinnieren, ob es sich nun geziemte sich schlecht zu fühlen, hatte sie doch zuvor aus reiner Boshaftigkeit gehandelt, sie war der anderen Frau mit voller Absicht symbolisch auf den Zehen herumgetrampelt. Trotzdem empfand sie keinerlei schlechtes Gewissen, nur Scham, weil Gott es vermutlich gesehen hatte und genauso wusste, dass es ihr kein bisschen Leid tat. Sie würde das Spiel doch nicht weiterspielen wollen? Oder doch? Widerwillig gestand sie sich ein diebisches Vergnügen ein, dabei zu zu sehen, wie Miss Hunter immer nervöser zu werden schien. Als hätte sie etwas himmelschreiend Schreckliches getan, ein Verbrechen begangen gar. Das machte Sophie natürlich neugierig, ohne dass sie recht dagegen ankam. Es gehörte sich schließlich nicht, die Nase in die Angelegenheiten fremder Leute zu stecken. Und doch schienen alte Frauen wie Mrs. Porter ihren lieben langen Tag nichts anderes zu tun. So eine kleine Sünde konnte Gott also wohl verzeihen.
Zum Glück schien die Haushälterin nichts davon bemerkt zu haben, wie Sophie in Gedanken davonschwebte, im Gegenteil, die Frage nach ihrem Wohlbefinden schien sie regelrecht aus der Fassung zu bringen und sie wirkte empört und betroffen zugleich. Wenn sie nur nicht so hätte kichern müssen. Alte Verlegenheit befiel nun auch Sophie, dafür so plötzlich die Haltung verloren zu haben und sie überlegte fieberhaft, ob sie die Sache noch irgendwie zurecht biegen könnte. Zumindest bekam sie keinen tadelnden Blick ab, das war schon mehr als sie gehofft hatte, trotzdem senkte sie den Blick auf den Boden, eine Hand noch immer fest auf ihren Mund gepresst und erstarrte dann, als ihr der eigene Fehler bewusst wurde. Sie hatte die Krücke losgelassen und diese fiel polternd zu Boden, mit einem Laut, der schrecklich laut in der betretenen Stille wirkte. Hastig hob Sophie nun den Blick, wobei ihre Locken ein wenig nach hinten rutschten und suchte angestrengt in Miss Hunters Blick danach, dass diese gleich lachen würde. Doch dort stellte sie keinerlei Anzeichen fest. Stattdessen tauchte ein zögerliches Lächeln auf deren Gesicht mit den Pausbacken auf und sie verwies darauf, dass es schon spät war. Mechanisch nickte Sophie und trat umständlich einen Schritt zur Seite, um den Weg die Treppe hinunter frei zu geben. „Gehen Sie ruhig vor, ich komme gleich nach.“ meinte sie dann leicht gequält, denn sie würde sich garantiert nicht die Blöße geben, hier auf den Knien vor der Engländerin herum zu rutschen, um ihre Gehhilfe wieder zu bekommen. Das würde schon anstrengend und schmerzhaft genug werden, ganz ohne Zuschauer.
Quälende Sekunden vergingen in peinlichem Schweigen. Doch die sonst so gesprächige Haushälterin konnte sich einfach nicht dazu aufraffen, die Situation mit einer versöhnlichen Äußerung zu entschärfen. So gut sie darin war, die Gefühle anderer zu deuten, so schlecht war sie als Schauspielerin. Hätte sie versucht, über ihre Nervosität hinwegzutäuschen, es wäre ihr mit Sicherheit mißlungen. Emily durchlebte all ihre Gefühle heftig, wenn sie auch selten für lange Zeit niedergeschlagen war. Zudem trug sie ihr Herz quasi auf der Zunge – wie oft hatte sie sich schon unbeabsichtigt verplappert! Sie war eben offenherzig und mitteilsam. Da erschien es ihr zu riskant, jetzt Konversation betreiben zu wollen und sich am Ende durch eine unbedachte Äußerung völlig vor dem Mädchen bloßzustellen. Sie sah also zu Boden und überlegte krampfhaft, was sie tun sollte, um die peinliche Szene zu beenden. So bemerkte sie nicht, daß auch Sophie den Blick gesenkt hatte. Erst das Poltern der fallenden Krücke ließ die kleine rundliche Frau zusammenzucken. Wie ein aufgescheuchtes Huhn machte sie beinahe einen Satz vor Schreck. Ihre Nerven waren derart angespannt! Aber wie sollte sie auch zur Ruhe kommen, wenn sie seit Tagen in der Nacht nicht mehr richtig schlief und am Tag unaufhörlich und immer wieder an das denken mußte, was John mit ihr getan, was er ihr gezeigt hatte! Und das unleugbar angenehme Kribbeln in ihrem Unterleib, jedesmal wenn sie das Unaussprechliche in Gedanken wieder durchlebte, es quälte das christliche Gewissen der sittenstreng erzogenen Britin sehr.
So wirkten ihre Bewegungen auch jetzt etwas fahrig und unsicher, als sie ohne nachzudenken ihre Röcke raffte und sich nach der Krücke bückte. Emily war Zeit ihres Lebens eine Hausdienerin gewesen, eine Bedienstete, die dafür da gewesen war, anderen das Leben angenehm und bequem zu machen, die Arbeit im Haushalt diskret und leise zu tun, Handreichungen aller Art ohne gesonderte Aufforderung zu leisten. Es war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Hinzu kamen ihre Schuldgefühle, die sie nun unsinnigerweise auch dem Mädchen gegenüber hegte, und ihre mitfühlende Natur, die ihr sozusagen gebot, hier zu helfen. Indem sie aufstand, hob die kleine Frau die Krücke auf und hielt sie deren Besitzerin hin. Sie öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, schloß ihn aber gleich darauf wieder betreten, ohne einen Laut von sich gegeben zu haben. Sie wich Sophies Blick aus. Sie verspürte den Drang, rasch die Gehhilfe zu übergeben und dann die Treppe hinabzueilen, nur aus dem Blick des Mädchens weg. Ihr schien es einmal mehr, als könne die junge Frau in sie hineinblicken und dort ihre Schande erkennen. Fast war ihr, als könne jeden Augenblick, den sie länger verweilte, die vernichtende Bemerkung kommen, der beißende Spott, oder, noch schlimmer, die gerechte Empörung über ihre Fleischeslust. Welche Demütigung würde das sein! Nur mühsam unterdrückte sie ein Zittern der Hand, in der sie die Krücke hielt. Wieviel hätte sie jetzt um etwas mehr Ruhe und Besonnenheit gegeben!
Sophie war versucht, die Augen zu schließen und langsam bis zehn zu zählen, nur um sicher zu gehen, dass die Zeit nicht angehalten hatte, sondern sie beide tatsächlich immer noch regungs- und wortlos an Ort und Stelle verharrten. Innerlich grübelte, was an ihren Worten so unverständlich gewesen war. Hatte Miss Hunter nicht verstanden, dass Sophie alleine sein wollte, wenn sie sich die Treppen hinab quälte oder empfand sie gar hämische Begeisterung, bei der Vorstellung dem Mädchen zu zu sehen, wie es sich zum Affen machte. Unsicher blinzelte Sophie und betrachtete Miss Hunter eingehender. Bisher hatte sie nicht das Gefühl gehabt, dass die Engländerin besondere Freude aus dem Leid ihrer Umwelt zog, aber Sophie hatte längst das Gefühl dafür verloren, wann Sorge und Anteilnahme aufrichtig waren, oder wann sie versteckter Sensationsgier dienten. Miss Hunter hatte zwar ein freundliches Gesicht, aber dahinter konnte sich alles verstecken. Der Gedanke lähmte sie, so dass sie tatenlos zusah, wie die Frau ihre Krücke aufhob. Sie bräuchte nur die Hand aus zu strecken und die Gehhilfe wieder an sich nehmen, doch aus irgendeinem Grund stand sie wie erstarrt da und beobachtete die Frau wie eine Maus die überlebensgroße Katze. Unsicherheit schien sie auf einmal wieder zu lähmen, dabei war sie doch voller guter Vorsätze gewesen, in Zukunft nicht mehr soviele Gedanken an die Meinung ihrer Mitmenschen zu verschwenden. Warum brauchte es nicht mehr als eine mollige Haushälterin, um diese Entscheidung ins Wanken zu bringen. Nervös wollte sie von einem Fuß auf den anderen treten, hielt sich aber in letzter Sekunde selbst davon ab, weil es ihr sicher nicht gut getan hätte. Stattdessen streckte sie hastig die Hand aus, um Emily die Krücke regelrecht aus der Hand zu reißen und gab erst danach ein abgehacktes, atemloses „Danke.“ von sich, dass genausowenig von Herzen kam, wie irgendetwas von dem was sie bisher von sich gegeben hatte.
Ihre Nägel kratzten über das Holz und angestrengt überlegte sie, wieviel Zeit schon vergangen war. Ms. Farley wartete sicher schon ungeduldig auf sie und zu spät zur Kirche wollte sie auch nicht kommen. Aber wenn sie vorging, würde Emily hinter ihr ausgebremst werden und die Haushälterin machte keinerlei Anzeichen, sich zuerst zu bewegen. Sophie zog die Stirn kraus. Mrs. Porter hatte es immer gut verstanden, solche Situationen zu nutzen. Vielleicht war das der Augenblick sich ein Beispiel an der alten Dame zu nehmen. Sie musste nur die Worte hervorbringen, die zäh wie Honig zwischen ihren Zähnen klebten. „Helfen Sie mir die Treppe hinunter, Miss, dann sind wir beide schneller.“ stieß sie dann hervor und hielt inne, weil die Worte mehr nach einem Befehl als nach einer freundlichen Bitte geklungen hatten. Das war nicht beabsichtigt gewesen, aber jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Es blieb nur gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Auffordernd hielt sie Emily den freien Arm hin, als wäre es das Natürlichste der Welt. „Ms. Farley wartet bestimmt schon!“ war da ein sehr praktisches Argument, um die Haushälterin auf Trapp zu bekommen, bevor sie auf die Idee kam, Sophies Autorität über ihre eigene Person in Frage zu stellen.
Ohne es zu wissen, half Sophie der kleinen Haushälterin. Emily war beinahe am Ende ihrer nervlichen Kräfte, so sehr setzten ihr das schlechte Gewissen und die Angst vor Höllenqualen angesichts ihrer Sündhaftigkeit zu. Es hätte wohl nicht mehr viel gefehlt, und die junge Frau, die sonst der fröhlichste Mensch der Welt war, wäre zu irgendeinem passenden oder unpassenden Moment vor irgendeinem Unbeteiligten in Tränen ausgebrochen. Der in ihren Augen unauflösliche Widerspruch zwischen ihrer Liebe für und ihrem Begehren nach John und ihren Pflichten als gute Christin hatte sie im Laufe der letzten, schlaflosen Nächte zermürbt. Hinzu kam, daß sie sich noch immer nicht an dieses Land und seine Leute gewöhnt hatte, daß ihr die gute alte Heimat mit ihren festen, ja, möglicherweise starren und oft ungerechten, aber dafür verläßlichen und Halt bietenden Regeln fehlte. Sauberkeit, Ordnung, gute Manieren und eine feste Hierarchie, das gab ihr das Gefühl von Geborgenheit. Hier, in diesem Land der vielen Möglichkeiten, schien ihr alles so regellos, so frei und leider oftmals auch unsittlich. Sie hatte sich schon mehr als einmal ängstlich gefragt, ob sie sich bereits mit dem Keim der Zügellosigkeit angesteckt hatte, der die Menschen hier gegen alles Bestehende aufbegehren zu lassen schien, was ihr ziemlich Angst machte. Wie verwirrte sie allein schon John, wenn er von ihr verlangte, sich selbstbewußter zu zeigen, sogar ihm selbst gegenüber, gegen alle hergebrachten und guten Regeln!
Ihr fehlte die Orientierung, der Halt, zumal sie hier so wenige Menschen gefunden hatte, die sie zu verstehen schienen. Da waren die Damen des Ortes, die sich zu den Handarbeitsnachmittagen trafen, da war Miss Farley, da war Holly, da war das so herzerfrischend tugendhafte Mädchen, Rebbecah. Die junge Frau vor ihr hatte sie sozusagen unwissentlich in einem Moment attackiert, in dem Emily nicht in der Lage gewesen war, klar zu denken. Noch jetzt war sie nervös und völlig zerfahren. Doch als sei es ein Rettungsanker, hörte sie plötzlich die Bitte – oder die Aufforderung? – des Mädchens, ihr zu helfen. Der beinahe befehlsartig klingende Ton machte der rundlichen kleinen Frau nichts aus. Sie war ihn gewohnt, und er fiel ihr in dieser Situation gar nicht auf. Doch allein die Äußerung Sophies gab ihr eine Art Halt, einen Punkt, der zu etwas gewohntem zu gehören schien. Und die junge Britin klammerte sich sofort dankbar daran fest. Anderen helfen, sie bedienen, das war ihr Alltag, fast seit sie denken konnte, das bedeutete Routine, Sicherheit, Ruhe! Ein plötzliches Lächeln zog über ihr Gesicht, ein wenig erleichtert, ein wenig entschuldigend, als sei sie bis zu diesem Moment in Gedanken versunken gewesen. "Aber natürlich! Bitte..." Mit einem Ruck ihre Gedanken beiseite schiebend, trat die kleine Frau auf Sophie zu, legte ihr vorsichtig einen Arm um die Hüfte und bot ihr den Nacken, damit das Mädchen seinerseits einen Halt fand. Das fiel ihr nicht sonderlich schwer, war sie doch kaum größer als Sophie.
Emilys Bewegungen gewannen wieder an Sicherheit, und sie zeigte, daß sie einfühlsam sein konnte, ohne übervorsichtig zu werden. Die resolute kleine Frau war gewohnt, körperlich zu arbeiten, und auch die Krankenpflege hatte sie nicht nur einmal in den Haushalten übernommen, in denen sie angestellt gewesen war. In ihrem drallen, weich wirkenden Körper steckte mehr Kraft, als man einem so kleinen Persönchen zugetraut hätte. Mit einem warmen Lächeln lud sie Sophie ein, sich ruhig auf sie zu stützen, als plötzlich ein warmer Hauch ihr Herz zu erfüllen schien. Die kleine Britin konnte nicht leugnen, daß sie eine mitfühlende Natur war. Sie hegte mütterliche Gefühle für jeden und alles, wenn sie Not und Leid sah. Schon oft hatte sie mit ihrer behütenden Art, andere zu umsorgen, eine Bauchlandung gemacht. Der kleine Eli war das beste Beispiel dafür. Und auch die junge Frau hatte ihr wenig Grund zu der Annahme gegeben, sie würde sich herzlich erfreut zeigen. Doch das störte die kleine Haushälterin jetzt nicht. Sie war einfach dankbar für den Schubs in eine Richtung, die sie von ihrem Kummer ablenken half, und sie fühlte das Bedürfnis, dem armen Mädchen zu helfen, das sich eigens wegen ihr mit einer Krücke hier herauf gequält hatte. Im stillen nahm sie sich bereits vor, gleich unten in der Küche so viel von der Arbeit Sophies mit zu übernehmen, wie sie bewältigen konnte.