Sie war noch eine Weile ziellos durch die Kälte der Stadt geirrt, immer darauf bedacht, niemandem zu begegnen und nicht aufzufallen. Nur keine Spuren hinterlassen, obwohl das bei dem Schnee schwierig war. Dafür sorgte der leicht anhaltende Schneefall dafür, dass man sein Gegenüber auf der Straße schlechter erkennen konnte und das war Lucy ganz recht so. Ihre Hochstimmung hatte trotz der Kälte angehalten, die sie nun wieder mit eisigen Armen umfing. Sie wusste selbst, dass ein herum irren sie nicht sonderlich weiter brachte und sie nur Gefahr lief, früher oder später einem mehr oder weniger bekanntem Gesicht zu begegnen. Die Bürgerlichkeit, ja beinah Spießigkeit der Stadt und Lucys Vergangenheit legten ihr den Weg eigentlich zu Füßen, egal wie sie ihre Möglichkeiten drehte und wendete. Sie würde nicht in der Stadt bleiben. Nicht jetzt, nicht so. Dafür brauchte sie Zeit, Gras musste über alles wachsen und Zeit war das, was Lucy nun ihr Eigen zu nennen glaubte. Und so hatte es sie es wieder aus der Stadt getrieben, in die Ungewissheit, auch wenn sie nur vorrübergehend sein mochte. Ihre Finger hatte sie unter den Mantel geschoben, die Decke als Bündel nah an sich gedrückt, wärmer wurde ihr dadurch nicht. Sie spürte regelrecht, wie ihre Nase zu einem Eiszapfen gefror. Sie konnte nur hoffen, dass sie keine Erkältung davon trug. Das war das Letzte, was sie nun gebrauchen konnte. Wie lange sie sich in der Stadt aufgehalten hatte? Sie konnte es nicht sagen und nur hoffen, dass Horatio nicht ihren Weg eingeschlagen hatte, sondern sich vor Schmerzen immer noch krümmte. Ich würd´s ihm gönnen. Aber wirklich, verdammter Mistkerl! Den schrecklich kurzen Zwischenfall in der Höhle brannte ihr immer noch einen Schandfleck auf das Bild von Horatio und die eigene Leichtgläubigkeit. Nie wieder, nie wieder!
Der Wald empfing sie mit derselben Undurchsichtigkeit, den verschneiten Bäumen und hinter jeder Schneewehe mochte Horatio oder eine sonstige Gefahr lauern. Sie hielt sich nur zu Beginn auf dem Weg und bald, sehr bald schlug sie sich in die Büsche, versteckt von den Blicken, aber immer noch so nahe des Weges, dass sie nicht die Orientierung verlor. Ihre Füßen begannen langsam zu Schmerzen und mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sich Lucy Schritt um Schritt vorwärts. Sie irrte eine ganze Weile, in Gedanken sämtliche Zufluchtsorte durchgehend, die sie auf einigen ihrer einsamen Streifzüge zu Walton-Gang Zeiten gefunden hatte. Wie das klang-als wäre es Monate her, seit sie alleine war, dabei waren es nur wenige Stunden und in der Summe Tage.
Dass sie die Hütte fand war dann eher Zufall und Glück als tatsächliches Wissen um den Holzverschlag. Zugeschneit war sie und Lucy war froh darum. Kaum zu erkennen, beinah wie ein Felsen, in der Natur eingelassen, stand sie da und zunächst war sie nicht sicher, ob sie bewohnt war. Aber einige vorsichtige Schritte um die Hütte verrieten ihr, dass sie schon lange leer stand. Abgeblättertes Holz, blinde Fenster und die regelrechte Aufforderung, sich Zugang zu verschaffen. Sobald sie eintrat, den Griff misstrauisch an der Waffe, das Bündel unter den anderen Arm geklemmt, gaben ihr die dumpfe Luft und der Staub endgültige Gewissheit. Nein, hier war schon lange Zeit niemand mehr gewesen oder hatte hier gelebt. Innerlich jubelte sie. Die Hütte lag weit genug von Camden Village entfernt, gleichzeitig aber auch versteckt und nicht allzu leicht zu erreichen. Zumindest die erste Nacht konnte sie hier bleiben, sich ausruhen, stärken und anschließend ihr Leben gestalten. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten hätte sie sogar gejubelt, wenn sie gewusst hätte, dass sie alleine war. Sie musste trotz allem vorsichtig sein.
Ihre Müdigkeit war für einige Zeit verschwunden als sie sich aufraffte und begann die Hütte für ihren Aufenthalt herzurichten. Die Hütte bestand nur aus einem Wohnraum und bot nicht viel außer einem Schlaflager, Tisch, Bank, ein paar Küchenutensilien und einem Schrank aber für Lucy wurde sie zum Zufluchtsort. Sie befreite alles so gut es ging von Staub, schloss die Tür und öffnete die Fenster dafür nur einen Spalt, um frische Luft hinein zu lassen. Wer wusste schon, wer vorbeikommen mochte? Aber sie fühlte sich halbwegs sicher, obwohl sie jedes kleine Geräusch aufschrecken ließ. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit konnte sie ein wenig zur Ruhe kommen, ließ ihre Gedanken kreisen, während sie ihr Schlaflager herrichtete, Schnee zu ihrem geringen Vorrat an Wasser zu schmelzen begann und sich endlich, endlich vom Schmutz der vergangenen Tage und der Erinnerung an Horatios Händen befreien konnte. Sie legte die neue Kleidung an, die sie hatte mitgehen lassen, während sie die alte so gut es ging ausklopfte. Erst als sie gegessen und alles so gut wie möglich verriegelt hatte, um den Schein der Unberührtheit zu wahren und sich sicher zu fühlen, erlaubte sie sich hinzulegen, sich zusammen zu rollen und die Welt für eine kurze Weile zu vergessen, die Waffe trotz allem in greifbarer Nähe.