Holly wachte auf und hatte einen ausgesprochen unangenehm trockenen Mund. Ihrer völlig verstopften Nase nach, hatte sie wohl die ganze Zeit über, die sie noch mal eingeschlafen war, nachdem Kate sie verlassen hatte, durch den Mund geatmet. Immerhin war ihr wenigstens nicht mehr so heiß, wie noch vor ein paar Stunden. Sie überlegte, wie spät es wohl sein mochte. Doch bevor sie weiter darüber nachdachte, musste sie unbedingt erst einmal etwas trinken. Sie setzte sich auf, um dann ihre leicht weichen Beine über die Bettkante zu schwingen. Langsam stand sie auf – na also, es ging doch. Es ging ihr besser, als heute früh, stellte sie erleichtert fest. Zwar fühlte sie sich noch etwas zittrig und schwach, aber ihr Kopf schmerzte nicht mehr so unerträglich. Sie zog sich eine Wolldecke über die Schultern und ging in die Küche. Dort füllte sie sich ein Glas Wasser und trank es in einem Zug aus, um es sich direkt wieder aufzufüllen. Mit dem Glas ging sie wieder in ihr Zimmer und setzte sich auf ihr Bett und trank da das Glas etwas langsamer aus.
Inzwischen war sie vollkommen wach und etwas klarer im Kopf – sofort begannen die Gedanken wieder zu kreisen. Sie war immer froh, wenn sie schlafen und so die Gedanken ausblenden konnte. Bei der Arbeit funktionierte das nur, wenn sie währenddessen mit jemandem sprechen konnte. Sie verbot sich immer wieder aufs Neue an Jesse und Megan zu denken, weil es einfach zu weh tat, aber sie konnte nichts dagegen tun. Die Gedanken kamen von selbst. Sie hatte sich letzte Woche heimlich in einer ruhigen Minute aus dem Gästehaus geschlichen, weil sie es nicht mehr aushielt und wissen musste, was mit Jesse war. Dummerweise und für sie nur typisch hatte sie natürlich ihr Cape vergessen, sodass sie bei diesem kleinen „Ausflug“ nicht nur der schmerzhaften Wahrheit ins Auge sehen musste, sondern sich obendrein eine dicke Erkältung eingefangen hatte. So konnte sie noch schlechter verdrängen, was sie erfahren hatte.
Natürlich war sie Megan sehr dankbar, dass sie ihr erzählt hatte, was passiert war und ebenso natürlich war sie mehr als erleichtert, dass Jesse diese Entführung überlebt hatte, wenn auch noch nicht abzusehen war zu welchem Preis. Aber auf die Erkenntnis, dass die beiden sich liebten, hätte sie gut verzichten können. Dabei hatte sie vor der Entführung gedacht, sie wäre so ziemlich über Jesse hinweg. Das war offensichtlich ein Irrtum gewesen. Es ging ihr fast schlechter, als vorher. Auch wenn sie sich immer wieder sagte, dass es gut war, dass sie es nun wusste und dass sie darüber hinweg kommen würde. Sie würde niemals einen Mann finden und glücklich werden... Wahrscheinlich hatte sie das auch nicht verdient, sie war es halt nicht wert. Kent hatte schon Recht gehabt die ganze Zeit.
Nein, sie konnte unmöglich weiter hier im Bett liegen und grübeln, egal wie erkältet sie nun war. Da ging sie lieber unter Ruths kritischen Blick arbeiten und versuchte sich abzulenken. Schließlich war im Gästehaus jede Menge zu tun. Holly war sich zwar nicht so sicher, was ihre Mutter dazu sagen würde, wenn sie nun doch im Gästehaus auftauchen würde, aber sie hoffte mal, das sie trotz allem froh sein würde, wenn sie Unterstützung bekam. Insgeheim wusste sie natürlich genau, was Kate dazu sagen würde, aber das schob sie für den Moment beiseite. Sie hatte schon genug, worüber sie nachdenken musste.
Entschlossen stand sie wiederum auf und zog sich arbeitstauglich an. Es ging doch langsamer, als gehofft. Denn je länger sie stand, desto zittriger wurde sie. Vor allem fing sie bei jeder kleinsten Anstrengung an zu schwitzen. Nichtsdestotrotz kleidete sie sich weiter an, es würde sie schon nicht umbringen! Sie musste einfach raus hier!
Schließlich war sie fertig, brachte ihr Glas in die Küche, füllte es noch mal auf, trank es aus und schob sich abwesend eine Scheibe Brot in den Mund. Ihr war klar, dass sie etwas essen musste, um bei Kräften zu bleiben, auch wenn ihr zurzeit einfach nichts schmeckte und sie erst Recht keinen Hunger hatte.
Dann zog sie sich ihr Cape über, ging zur Tür und öffnete sie.