Whisky trabte, wenn auch nur langsam aber doch stetig, die verschneiten Wege entlang. Vor seinen Nüstern bildeten sich kleine Atemwölkchen während er tapfer vorwärts drängte. Er schien sich sogar über die Bewegung, die er nun endlich nach tagelangem Stallaufenthalt bekam, zu freuen. Stevie dagegen hatte heute etwas Mühe gegen die Kälte anzukämpfen. Sie hatte bereits den Kragen ihrer Jacke hochgeschlagen und das Halstuch schützend höher gezogen, so dass es ihr knapp über das Kinn reichte und dennoch griff die Kälte mit eisigen Fingern nach ihr. Abermals überkam sie ein Zittern und sie verfluchte im Stillen den harten Winter. Trotzdem lenkte sie Whisky vorbei an verschneiten Wäldern und Wegen und hatte dabei noch Mr. Bakers Worte im Kopf, als er ihr damals bis auf den Meter genau den Weg zu Mr. Simones beschrieb. Dann hatte sich jedoch das Wetter zusehends verschlechtert und Stevie hatte den Ritt zur Ranch tagelang aufgeschoben bis es nun nicht mehr möglich war zu warten. Heute musste sie wissen, ob sie den Job im Mietstall bekam oder sogar Chancen hatte auf der Ranch unterzukommen. Natürlich war dieser Wunsch so gut wie unmöglich nachdem wie ihr Mr. Simones beschrieben wurde, doch die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Sie zügelte Whisky in den Schritt nachdem sie vom Hauptweg, der nach Camden Village führte und heute wohl schon befahren wurde, so dass sie die Fahrspuren hatte nutzen können um gut vorwärts zu kommen, abbog und in tieferen Schnee geriet. Die weiße Pracht wurde zusehend höher und unberechnbarer. Noch dazu schien sie beinah unberührt zu sein. Für Whisky ein größerer Kraftaufwand, doch der Hengst nahm auch diese Herausforderung ohne zu zögern an. Stevie hielt derweil die Umgebung im Auge, denn es war nun immer schwieriger sich zu orientieren. Durch den Schnee sah jede Ecke gleich aus, doch Mr. Baker hatte ihr ein paar gute Orientierungspunkte genannt, die ihr nun auch im dichtesten Schnee weiterhalfen. Dort war zum Beispiel die dicke Eiche, die schon hunderte von Jahren alt sein musste und Stevie den Weg zur nächsten Abzweigung wies. Es war noch ein gutes Stück, doch der Ehrgeiz trieb Stevie vorwärts. Sie wollte diese Ranch sehen und dessen Besitzer kennen lernen. Um jeden Preis!
Ava mit Martha auf der Hauptstraße in Richtung St. John‘s
Die beiden ungleichen aber letzten Endes doch gar nicht so verschiedenen Weggefährtinnen passierten den Ortseingang und ließen Camden Village hinter sich. Hier außerhalb der Stadtgrenze waren sie der Kälte, die mit Schnee und Wind einherging, noch mehr ausgesetzt. Allein die gelegentlichen, hohen Bäume am Wegesrand spendeten ab und an ein wenig Schutz. Es war Ava keineswegs entgangen, dass Martha sich beim Anblick der Indianer geradezu verängstigt an sie gedrängt hatte. Das Zutrauen der Jüngeren und die menschliche Wärme taten der Dienstmagd gut. Andererseits fühlte sie sich umso schändlicher das Mädchen ohne deren Wissen in eine ebenfalls sicherlich nicht unbedingt heitere Situation zu ziehen, wo sie doch gerade so erleichtert und gelöst schien den Problemen im eigenen Elternhaus erst einmal entkommen zu sein. Zudem wusste die junge Frau ja nicht einmal, ob es dem Mädchen überhaupt erlaubt war die Stadt zu verlassen. Also wohlmöglich brachte sie das arme Ding hiermit sogar in noch viel größere Schwierigkeiten?! Nun... von ihr würden es die McKay's gewiss nicht erfahren, so viel war zumindest sicher! Blieb also nur zu hoffen, dass sie es auch nicht auf anderem Wege herausfanden... Ungewohnt vertraut legte Ava ihren Arm um Martha und nahm die Kleine somit quasi unter ihre Fittiche um ihr zu signalisieren, dass sie mit Ava an ihrer Seite nichts zu befürchten hatte und auch keine Angst vor den fremden Rothäuten zu haben brauchte. Martha schien eine ganz Andere je weiter sie sich von der Lake Street entfernten. Ihre aufgeweckte, neugierige Seite kam wieder ein bisschen zum Vorschein und sie erkundete interessiert die Umgebung. Ava nahm es mit einem Lächeln zur Kenntnis.
Unbeirrt setzten sie ihren Weg am Rande der Hauptstraße entlang in Richtung St. John's fort und der Schnee wehte ihnen ins Gesicht. Avas Wangen und Nase waren bereits ganz gerötet von der Kälte und Martha erging es ähnlich. Niedlich sah die Kleine aus so mit den roten Bäckchen, geradezu entzückend. Die Dienstmagd lächelte in sich hinein und bekam ein wärmendes Gefühl, denn sie musste an ihre jüngsten Schwestern denken. Wie es ihnen wohl ging so allein mit dem Vater und den Älteren? Ob sie wohlauf waren? Doch die Fragen ihrer Begleiterin rissen Ava erneut aus ihren Gedanken und erinnerten sie vor allem daran, dass sie dem Mädchen gegenüber noch eine gewisse Aufklärung, wenn nicht sogar Warnung schuldig war. "Nein", die junge Frau schüttelte den Kopf, "Wir gehen nicht zu mir nach Hause. Wir treffen ihn auf dem Weg. Das hätte ich dir gleich sagen sollen..., bitte verzeih!" Ava senkte ihren Blick und hoffte, dass Martha nicht sofort stehen blieb und auf der Stelle kehrt machte. Doch nichts dergleichen geschah. Anstatt dessen sprudelten die Fragen nur so aus der Kleinen heraus, dicht gefolgt von einer umgehenden Entschuldigung für deren Neugier. Das Mädchen beteuerte, dass sie ihr auf keinen Fall zu nahe treten wolle und dass sie ruhig sagen könne, wenn Marthas Fragen ihr unangenehm waren. Ava lächelte unsicher. Unangenehm? Nein, Martha und ihre Gesellschaft waren ihr keineswegs unangenehm und ihre Fragen an und für sich auch nicht. Eher ungewohnt. Aber damit musste das Dienstmädchen lernen zu Recht zu kommen. Außerdem hatte sie ja ohnehin vor gehabt ehrlich mit ihrer Begleiterin zu sein. So ging sie wahrheitsgemäß und verständnisvoll auf deren Fragen ein: "Nein, du trittst mir nicht zu nahe, Martha. Keine Sorge! Es ist nur...", an dieser Stelle machte Ava eine kurze Pause, weil sie überlegen musste wie es am günstigsten war fortzufahren, "...alles ein wenig kompliziert, weißt du." Ava wandte sich der Kleinen zu und sah diese mit ehrlichem und fragendem Blick an bevor sie weiter sprach.
"Vater möchte nicht gerne den gesamten, weiten Weg bis in die Stadt machen und...", Und wenn ich ehrlich bin, bin ich auch ganz froh darum!, führte sie ihren Satz in Gedanken fort. "Er möchte aber auch nicht, dass ich das Geld nach Hause bringe." Ein leichter Hauch von Bitterkeit legte sich in Avas Augen. "Deswegen treffen wir uns immer etwas außerhalb vor der Stadt. So muss keiner von uns den kompletten Weg machen." Abermals versuchte die Dienstmagd sich an einem Lächeln, aber die Tatsache, dass sie nun mit Martha über all dies sprach, ließ ihr Herz etwas schneller schlagen. Die junge Frau wurde sichtlich nervös und das alles machte sie ganz kribbelig. Noch nie hatte sie mit jemandem auf diese intime, vertraute Art und Weise über ihren Vater oder ihre Familie gesprochen... es war einfach so ungewohnt! Die Tatsache, dass sie sich vorgenommen hatte Martha gegenüber ehrlich zu sein und ihr die Wahrheit zu sagen machte es nicht gerade besser. Ava spürte ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Aber sie musste es loswerden, jetzt oder nie! So hätte Martha im Zweifelsfalle zumindest noch die Gelegenheit doch noch umzukehren. Die junge Frau fasste all ihren Mut zusammen, blieb plötzlich stehen, sah das Mädchen neben ihr zugleich entschlossen und entschuldigend an und beichtete: "Martha, ich... Es gibt da etwas, dass du wissen solltest!" Aber wie formulierte sie so was am besten? "Das..., das Treffen mit meinem Vater, es könnte durchaus... unangenehm werden." Beschämt wich sie dem fragenden Blick ihrer Begleiterin aus bevor sie fortfuhr: "Er..., er ist kein schlechter Mensch, weißt du, aber er ist sehr...", händeringend suchte Ava in Gedanken nach dem richtigen Wort dafür und endete dann letztendlich doch nur bei "Streng. Er will, dass es seinen Kindern gut geht und dazu braucht er meinen Beitrag von dem Lohn, den ich bei Lady Craven erhalte." Dass mit 'seinen Kindern' alle Eriksson Sprösslinge außer ihr gemeint waren, behielt das Dienstmädchen natürlich für sich. Dies war eine Traurigkeit, die sie schon lang in ihrem Herzen weggeschlossen hatte. Allein in ihren Augen spiegelte sich ein Funken davon wider, den Martha jedoch unmöglich interpretieren konnte. "Er arbeitet seit Jahren in den Mienen von Mr. Simones und die Arbeit dort ist hart und nicht sonderlich gut bezahlt. Es ist also unerlässlich, dass ich mich an der finanziellen Unterstützung meiner Familie beteilige, verstehst du? Anders könnten sie diesen Winter gar nicht überstehen!"
Abermals dachte sie wehmütig an ihre jüngsten Schwestern und den kleinen Noah. Sie alle hatte sie bereits seit fast drei Monaten nicht mehr gesehen. Das erfüllte Ava mit Betrübnis, doch nun war sie hier mit Martha und hatte dieser einiges zu erklären. Also versuchte sie sich zusammen zu nehmen und fuhr, jedoch ohne die Kleine dabei direkt anzusehen, fort: "Jedenfalls... Ich komme jeden Sonntag hier raus um meinem Vater das Geld der vergangenen Woche zu geben. Aber die letzten Male... nun, er war nicht mehr zufrieden damit. Er sagt, es sei nicht genug und reiche nicht aus. Der Winter sei zu hart. Und... na ja, er wollte, dass ich beim nächsten Mal mehr vorzuweisen habe." An dieser Stelle senkte die Dienstmagd den Kopf. "Nur..., das Problem ist, dass Mrs. Craven mir im Moment nicht mehr geben kann. Das..., das liegt nicht an meiner Arbeit oder daran, dass sie unzufrieden mit mir wäre, sondern es hat private Gründe. Aber im Augenblick kann sie meinen Lohn einfach nicht erhöhen, selbst, wenn sie es wollte." Avas Gesicht nahm resignierte Züge an. Schließlich sprach die weiter: "Ich erzähle dir das, um dich wissen zu lassen..., um dich zu warnen. Es könnte sein, dass Vater nicht sonderlich gut aufgelegt ist. Er war bei den vergangenen Treffen bereits sehr ungehalten. Ich habe versucht ihm klar zu machen, dass ich nichts tun kann aber er..., er hat Schwierigkeiten das nachzuvollziehen. Beim letzten Mal vergangenen Sonntag, hat er mir sehr eindringlich klar gemacht, dass er heute eine höhere Summe erwartet." Das Dienstmädchen ließ die Schultern hängen. "Die kann ich ihm aber nicht geben." Nach einem kurzen Moment der Stille fasste die junge Frau all ihren Mut zusammen, überwand ihre Zurückhaltung, und sah ihrer braunhaarigen Weggefährtin in die Augen. Dann fuhr sie fort: "Worauf ich hinaus will ist, dass ich nicht weiß, wie Vaters Gemüt heute ist und wie er darauf reagieren wird, dass ich seine Forderung schon wieder nicht erfüllen kann...!" Seufzend atmete Ava aus. Zwar fühlte sie sich nach wie vor ziemlich verlegen, aber auf irgendeine Art und Weise fühlte es sich geradezu gut an, dieses Geständnis. Sie blickte Martha abermals an und versuchte deren Gesichtsausdruck zu lesen. Was mochte sie nun denken? Was ging wohl in ihr vor? Bevor das Schweigen zwischen ihnen allzu lang wurde, ergriff die Dienstmagd erneut die Initiative und versuchte es dem Mädchen etwas leichter zu machen auf das Gehörte zu reagieren: "Also..., deshalb verstünde ich, wenn du jetzt doch lieber wieder umkehren wolltest..., ehrlich! Und ich würde dich auch nicht davon abhalten!"
Ava mit Martha auf der Hauptstraße in Richtung St. John‘s
Es war schon erheblich spät geworden, wie Martha hier draußen in der freien Natur feststellen musste, denn die vielen Lichter der Stadt, die sich im Schnee widerspiegelten fehlten hier draußen. Der graue Himmel über ihnen, aus dem es unaufhörlich schneite, ließ nur wenig der untergehenden, kraftlosen Wintersonne hindurch, sodass selbst der helle Schnee nicht für viel Licht sorgen konnte. Es herrschte das typische Zwielicht, das nie so recht wusste, ob es noch Nachmittag oder schon Abend sein wollte. Doch es reichte aus, um den Weg zu finden, den Ava wohl einzuschlagen hatte, um ihren Vater zu treffen. Martha hoffte, dass das Licht jedoch noch ausreichen würde, um wieder nach Hause zu finden. Denn obwohl sie diesen kleinen Ausflug als Vorwand benutzt hatte, um nicht nach Hause zu müssen, erahnte sie langsam, wie lange sie sich tatsächlich schon herumtrieb. Es war überhaupt nicht nötig sich auszumalen, was sie erwarten würde. Das wusste sie längst.
Die Stadt lag nun hinter ihnen und damit zum Glück auch diese furchteinflößenden Indianer. Obwohl sie überhaupt nichts mit diesem hässlichen, schwarzen Mann des vergangenen Montags gemein hatten, waren sie doch Wilde, Tiere, wie Mutter immer sagte und damit wohl dem Schwarzen nicht völlig unähnlich. Wer weiß, vielleicht würde sich einer der Männer auf sie stürzen, wenn er nur die Gelegenheit dazu gehabt hätte? So empfand sie Avas vertrauten Arm um ihre Schultern keineswegs als unangenehm, sondern als den notwendigen Schutz. Sie verlor darüber kein Wort, schüttelte den Arm aber auch nicht ab, als sie auf das offene Feld gelangten und damit die Gefahr hinter ihnen lag. Sie bekam selten Aufmerksamkeiten in Form von körperlicher Zuwendung, sah man einmal von den Züchtigungen ab, so dass Martha Avas Geste zwar ungewohnt war, aber den Hunger nach mehr weckte.
"Oh, das.. das ist schon in Ordnung," beeilte sich Martha zu versichern, so dass sie sich ein wenig verhaspelte. Es war ja nicht an ihr einer viel Älteren Vorwürfe zu machen. Wäre ihr so etwas im Beisein ihrer Eltern passiert, hätte sie gewaltige Probleme bekommen. Doch in Avas Nähe fühlte sich Martha sicher und gewann sogar ein wenig Selbstvertrauen, so dass sie gleich wieder ein wenig Lächeln konnte, ganz so, als amüsiere sie sich selbst über ihre ungeschickte Zunge. "Ich meine, du musst dich dafür nicht entschuldigen. Ich dachte eben nur...", sie zuckte etwas unbeholfen mit den Schultern und lachte. "Aber denken ist ja nicht die Sache von uns Frauen, sagt Ma immer," wickelte Martha ihren wohl sichtlichen Denkfehler ab und wirkte ungemein erleichtert, als Ava ihr versicherte, dass all ihre Fragen keineswegs zu aufdringlich waren. Trotzdem hatte Martha das Gefühl, dass ihre Neugier ungelegen kam. Denn Ava wich ihr ein wenig aus, dass konnte das Mädchen spüren. Sie wollte Ava gerade anbieten ihre Fragen einfach zu vergessen, als diese jedoch von sich aus damit begann dieses "kompliziert sein" näher zu erklären. Martha wollte es jedoch nicht ganz verstehen. Ihr beiden erwachsenen Brüder hatten immer pünktlich ihren Anteil am Lohn Vater übergeben. In den eigenen vier Wänden. Niemals wäre ihr Pa auf die Idee gekommen seinen Söhnen einen ungemütlichen Treffpunkt zu zumuten. Vielleicht lag dieses aber auch daran, dass Paul als auch Emmett noch zu Hause gewohnt hatten, als sie sich mit ihrem Lohn am Familienleben beteiligt hatten. Doch die Frage getraute sich Martha nicht zu stellen, denn Ava klang so selbstverständlich, als sie von den Gepflogenheiten berichtete, dass Martha sie nicht durcheinander bringen wollte. So nickte sie nur artig. Und es war ja nicht völlig unlogisch, dass man bei so einem Wetter einen Kompromiss schloss.
Ein wenig ergriff Martha ein ungutes Gefühl, als Ava plötzlich zögerlich davon anfing, dass es da noch etwas gab, das sie ihr dringend sagen musste. Es wollte Martha jedoch kein Grund einfallen, der Ava bewogen haben könnte, sie belogen zu haben. Dennoch stieg kurz Angst und Panik in Martha auf, als sie daran dachte, dass sie womöglich viel weiter laufen mussten, als angegeben oder das Treffen vielleicht gar nicht stattfand und Ava es nur erfunden haben könnte. Doch dass dies ziemlich dumme Gedanken waren, musste Martha sich schon im nächsten Augenblick selbst eingestehen. Zwar verschwand das mulmige Gefühl nicht gerade, als sie Ava dabei zuhörte, wie diese einräumte, dass ihr Vater ein ungemütlicher Zeitgenosse war, aber immerhin musste Martha nicht noch mehr eigene elterliche Gesetze brechen, als sie ohnehin schon tat.
Wie schwer es Ava fiel über ihren Vater so offen zu sprechen konnte Martha sehen und hören. Und nur zu gut verstehen. Ihr selbst fiel es doch auch jedes Mal schwer die Wahrheit über ihre Eltern in den Mund zu nehmen. Da war es nicht schwer Ava ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. "Mach dir keine Gedanken Ava. Ich hab' doch selbst strenge Eltern, die es einem mitunter sehr schwer machen können. Damit kenne ich mich wirklich gut aus," auch wenn sie gerne auf dieses Wissen verzichtet hätte. Ava fuhr jedoch erst einmal damit fort, ihren Vater zu rechtfertigen. Etwas, das auch Martha vertraut war. Wie oft hatte sie schon Bekannten, Lehrern oder Verwandten gegenüber versichert, dass sie die besten Eltern der Welt hatte, die sich um ihre Kinder sorgten, für ihr Wohl sich krumm legten und hart arbeiteten, um allen eine gute Zukunft zu ermöglichen. Welchen Preis die McKay Kinder dafür zu zahlen hatten, verschwieg sie natürlich dabei und niemand schien auch nur im geringsten zu ahnen, wie oft es vorkam, dass die sonst überall als zuvorkommenden, freundlichen und höflichen McKays ihre Kinder schikanierten und dies Erziehung nannten. Die meisten im Bekanntenkreis hielten ja eine Züchtigung als notwendige Erziehung, die noch keinem geschadet hatte. Wie oft eine notwendige Abreibung an der Tagesordnung stand, wollte dann schon keiner mehr hören. Das hatte Martha längst begriffen und deswegen wusste sie nur zu gut, wie weit man gehen mochte, um sich etwas schön zu reden. Ava schien gerade nichts anderes zu tun und Martha fragte sich zum ersten Mal ob es da eine Verbindung zwischen ihnen gab, die ihr bislang unbekannt gewesen war, aber erklären würde, wieso ihr die etliche Jahre ältere Frau so zu getan war. Auch wenn Martha selten der Altersunterschied auffiel, so war er im Augenblick doch allgegenwärtig und etwas erdrückend. "Ich verstehe, ja," nickte Martha jedoch als Ava eine kurze Pause machte und lächelte tapfer weiter. Sie verstand soweit wirklich, vermutete aber, dass da noch viel mehr war, das Ava nicht aussprach. Auch nicht, als sie fortfuhr und die Sache Martha noch etwas genauer beschrieb. Das Bild blieb aber gleich. Ava musste sich einem ungeduldigen Vater stellen, der von ihr mehr Abgaben erwartete, die diese nicht bewältigen konnte, weil sie nicht mehr bezahlt bekam. Und davor schien sich die junge Dienstmagd zu fürchten. Sie sprach es nicht aus, aber Martha konnte es an ihrem Ton hören, sah es in ihrem Blick und an den etwas fahrigen Gesten. Alles vertraute Kleinigkeiten, die sie von sich selbst kannte und oft genug an Ben beobachten konnte. Den Versuch Ava zu fragen, wieso sie nicht einfach versuchte ihrem Vater genau all dies so zu erklären, wie sie es eben mit ihr tat, ersparte sie sich. Sie konnte sich gut vorstellen, dass Ava dies längst alles versucht hatte, sonst wäre sie kaum so verzweifelt genug, um Martha in diese Sache einzuweihen. Martha war zwar noch jung, aber nicht dumm, auch wenn Vater und Mutter immer wieder in ihrer Gegenwart betonten, dass der Schlauste der Familie Matthew sei und ein Mädchen eben nicht zum Denken gemacht sei und daher einen anständigen Ehemann suchen musste, um für die Zukunft gut versorgt zu sein. Worte die stets verletzten und an Marthas Selbstbewusstsein nagten. Wie oft hatte sie sich gewünscht tatsächlich so dumm und naiv zu sein, wie Vater und Mutter es von ihr erwarteten. Doch im Augenblick war sie froh um ihre Gabe die Dinge mit eigenen Augen sehen zu können, um sich selbst Gedanken darüber zu machen. Deswegen fühlte sich Martha auch im Augenblick ziemlich erwachsen, denn sie wusste, dass Ava sie nicht ins Vertrauen hätte ziehen müssen. Das bedeutete wohl dass sie ihr vertraute und das machte Martha ungemein stolz, aber auch glücklich, denn diese Verbundenheit, die sie damit erfuhr, war ihr völlig neu. Sie wollte jetzt keine Fehler machen und dachte daher angestrengt über ihre nächsten Worte nach. Sie wollte sich auch nicht blamieren oder als das naive Kind erweisen, das sie für viele Menschen noch immer war.
"Wieso sollte ich das tun," sagte sie erst einmal nachdenklich und schenkte Ava ein kleines Lächeln. "Ich wäre eine schlechte Freundin, wenn ich dich nun alleine ließe, nur weil ich Angst bekäme. Wenn ich bei dir bin... vielleicht beruhigt das das Gemüt deines Vaters?," es war ein vorsichtiger Vorstoß, denn Martha wagte. Sie hatte schon ein bisschen Bauchschmerz dabei, wenn sie an die Antwort von Ava dachte. Denn fiele diese negativ aus, dann wagte Martha womöglich mehr mit ihrer Begleitung als ihr lieb war. "Ich kann ihm natürlich auch versichern, als deine Zeugin, dass du nichts dafür kannst. Er muss ja gar nicht wissen, dass ich nur das Nachbarsmädchen bin und deine Dienstherrin überhaupt nicht kenne," hoffnungsvoll sah sie Ava an, ehe sich ein unguter Gedanke einschlich, der Martha mit allen Mut, den sie aufbringen konnte, etwas stockend fragen ließ, obwohl er für sie gemessen an der eigenen Erziehung ganz logisch erschien: "Er.. was... also was heißt das, er ist ungehalten? Schlägt er dich denn?"