Ava mit Martha auf der Lake Street kurz vor der Mündung zur Main Street
Die Tatsache, dass man Martha den ihr bevorstehenden Schrecken im Gesicht ablesen konnte und sich deren Augen zu allem Überfluss auch noch mit einer unmissverständlichen Glasigkeit überzogen erweichten das Herz der jungen Frau nur umso mehr. Es ließ sie zwar nicht weniger daran zweifeln, ob es für das Mädchen grundsätzlich tatsächlich besser war mit ihr zu kommen, aber es nahm ihr die Entscheidung quasi von selbst ab. Ava war einfach zu mitfühlend, denn in dieser Beziehung erinnerte Martha sie zu sehr an ihre jüngeren Schwestern. Diesen konnte sie in der Regel auch kaum eine Bitte abschlagen. Die Dienstmagd hoffte nur inständig, dass ihre Rechnung aufgehen und der Vater sich in Anbetracht der Tatsache, dass solch ein junges, unschuldiges Ding sie begleitete, zusammenreißen würde. Nun..., das setzte natürlich allerdings voraus, dass er bei klarem Verstand war und sich für den Ritt keine Wärme und Standfestigkeit angetrunken hatte. Ava schüttelte diesen Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf Martha. Diese versicherte ihr kleinlaut, dass sie ihr auch sicherlich nicht zur Last fallen würde. Aber das - dies konnte die Kleine natürlich jedoch nicht wissen - war es ja auch nicht, was die junge Frau daran plagte! Marthas Reaktion auf ihren Vorschlag mit der Notlüge überraschte sie zwar, erschütterte sie aber umso mehr. Einerseits konnte sie die Beweggründe des Mädchens nur allzu gut nachvollziehen, andererseits wäre sie ihr gerne behilflich gewesen und hätte ihr das weitere Schicksal erspart. Ava kam sich in Anbetracht des Entsetzens der Jüngeren ob eines gar so ungeheuerlichen und inakzeptablen Vorschlags, geradezu schändlich vor. Sie hoffte, dass Martha sie deswegen jetzt nicht in einem falschen Licht sah, denn das Dienstmädchen war keine Gewohnheitslügnerin! Mitnichten... auch Ava griff so gut wie nie zu solch einem Mittel. Aber sie hatte der Kleinen doch nur so unbedingt helfen wollen!
Martha erläuterte, welch schlechte Lügnerin sie sei und dass ihre Eltern ihr so oder so sicherlich auf die Schliche kommen würden. Ava kannte das nur zu gut und ein ums andere Mal erkannte sie sich in ihrem Gegenüber wieder. Ava lächelte milde und verständnisvoll. Zwar gelang es ihr kaum sich keine Gedanken um Martha zu machen und das, was sie später noch zu Hause erwartete, aber sie versuchte es zumindest. Geradezu erleichtert registrierte sie, dass das Mädchen zumindest auf ihren Vorschlag mit der Decke einging. "Ich weiß was du meinst!", bestätigte sie der Jüngeren dass sie sich nicht weiter zu entschuldigen brauchte. Ava fühlte sich viel mehr schuldig, dass sie ihr ein solches Angebot überhaupt unterbreitet und sie damit in Versuchung geführt hatte! Deswegen wollte sie auch lieber nicht mehr weiter darauf eingehen und kam lieber auf das nun Anstehende zu sprechen, auch um Martha so gut wie möglich abzulenken. "In Ordnung.", nickte sie zufrieden und erläuterte schließlich wie es weiterging: "Dann warte kurz hier. Ich laufe eben schnell und hole die Decke und dann gehen wir los, ja?!" Auf Marthas Bestätigung hin eilte sie durch das Schneegestöber zurück zum Craven'schen Haus und schlüpfte fix hinein. Nachdem sie die nächste warme Decke gegriffen, noch mal leise die Treppe zum Obergeschoss erklommen und nachgehört hatte, ob Lady Craven noch immer schlief, sputete die Dienstmagd sich zurück zu ihrer kleinen Freundin zu kommen, die draußen an der Mündung der Lake Street auf sie wartete. "Hier.", sagte sie fürsorglich und legte der Jüngeren die Decke um die Schultern. "Ich hoffe so ist es besser.", lächelte die junge Frau und fragte ihre Weggefährtin schließlich: "Nun? Können wir los? Es ist auch nicht allzu weit, keine Sorge!"
Ava mit Martha auf der Lake Street kurz vor der Mündung zur Main Street
Martha bekam ihre Unsicherheit einfach nicht in den Griff. Obwohl sie wusste, dass sie auf keinen Fall nach Hause gehen wollte, weil sie dort nur wieder Schimpf und Tadel erwartete, gefolgt von einer Züchtigung, konnte sie dennoch Ava nicht in die Augen sehen, weil sie glaubte sich ihr gerade ganz unhöflich aufzudrängen. Immerhin hatte Ava alles versucht Martha davon zu überzeugen nach Hause zu gehen. Das war doch Fingerzeig genug, dass jemand den anderen los werden möchte.
Nun war diese hin und her gerissen, überlegte, ob es nicht doch besser wäre sich zu Hause im Warmen ihren Eltern zu stellen, als Ava in eine missliche Lage zu bringen. Doch diese sah sie so verständnisvoll an, dass Martha fast dazu neigte anzunehmen, dass Ava genau wusste, was Martha in Andeutungen über ihre Eltern zu verstehen gab. Etwas, das dem Mädchen unglaublich peinlich war und sie rot anlaufen ließ. Es wäre wohl das Beste, wenn sie die Decke ablehnen würde und dann .. nein sie konnte einfach nicht nach Hause. Aber was sollte sie sonst tun? Mit Ava ein wenig Zeit totschlagen zu dürfen war ihr so verlockend erschienen...
Auch wenn sie auf Avas Zustimmung gehofft hatte, zeigte sich Martha überrascht, als Ava nicht noch einen weiteren Versuch unternahm, sondern gleich ihre Bereitschaft signalisierte die Decke zu holen. "Ich warte," nickte Martha und musste zum ersten Mal seit dieser Unterhaltung breit Grinsen. Denn wohin sollte sie auch schon gehen? Sicherlich nicht weiter die Straße rauf, denn dort konnten ihre Eltern mit einem Blick aus dem Fenster Martha nur zu leicht entdecken. Martha sah Ava hinter her, die rasch zum Diensthaus eilte. Erst als sie sie nicht mehr sehen konnte, lief sie ein Stück zurück an die Kreuzung, um sich leichter verstecken zu können, falls doch jemand von der Familie aus dem Haus kam oder die Straße nahm. Sie war furchtbar aufgeregt, denn sie wusste sehr wohl, dass sie gegen sämtliche Anordnungen ihrer Eltern verstieß. Sie war vom Fest verschwunden ohne Bescheid zu geben, sie kam nicht nach Hause und trieb sich ohne Erlaubnis auf der Straße herum. Sie würde sogar die Stadt verlassen, ohne gefragt zu haben. Sie hatte mehr Schwierigkeiten am Hals, als ihr lieb gewesen wäre. Und doch war etwas in ihr erwacht. Ein kleiner Funke Widerstand, der sich gut anfühlte. Sie sah absolut nicht ein, wieso sie nicht zum ersten Mal in ihrem Leben etwas Spaß haben sollte, wenn sie doch so oder so für ihre Fehltritte des heutigen Tages gezüchtigt werden sollte. Nein, an ihrem Vorhaben änderte auch ihre Furcht vor den Eltern nichts mehr.
Als Ava zurückkam atmete Martha erleichtert durch. Es war doch kalt geworden und die Angst vor Entdeckung war Sekunde um Sekunde gestiegen. "Danke", sagte sie aufrichtig, als Ava ihr die Decke fürsorglich um die Schultern legte. So war es tatsächlich gleich viel besser und sie nickte mit einem Strahlen auf die entsprechende Frage von Ava. "Sehr viel besser." Ava wollte nun keine Zeit mehr verlieren und aufbrechen. Martha war das nur recht. Weg von der Lake Street und Bewegung gegen die Kälte... Das klang nach einem Plan.
"Sicher gerne. Und es ist egal, wie weit es ist... ich muss nicht so schnell zurück, weißt du?," sie versuchte sich an einem schwachen Lächeln, während sie die Mainstreet Richtung Ortsausgang nahmen, an dem reges Leben herrschte. Ein Gefangenentransport mit Indianer weckte Marthas Interesse und sie wollte den Indianern dort nicht zu nahe kommen. Eine Kutsche hielt vor der Station, deren Insassen mit dem Major eine Unterhaltung führten und auch vor der Postkutschen-Stelle standen Passanten in einer Unterhaltung vertieft. Martha streifte sie eher ohne Neugier mit ihrem Blick und hielt sich lieber an Ava: "Wie weit ist es denn wirklich?"