Victor hatte den Kuss erwidert und Runs Ahead war versucht, sich ihm noch weiter hinzugeben, doch dann überwiegte wieder ihre Vernunft. Und auch Victor schien den Eindruck zu haben, dass hier nicht der richtige Ort und wohl auch nicht der richtige Zeitpunkt für Zärtlichkeiten war.
Runs Ahead war ein wenig enttäuscht aber sicherlich war es besser so und... ja... ebenso sicher hatte sie sich eben wohl mächtig daneben benommen. Etwas beschämt senkte sie den Blick und wusste nicht so recht, was nun.
Auch Victor schien es so zu gehen, denn er erklärte, dass er das jetzt nicht erwartet hatte und wollte dann von ihr wissen, was sie nun von ihm wollte. Das wiederum war eine Frage, die das Mädchen ihrerseits überhaupt nicht beantworten konnte. Im ersten Moment versteifte sie sich unwillkürlich, versuchte dann aber wieder zu entspannen. Victor war ihr Freund und ihr Geliebter. Wer, wenn nicht er durfte da solch eine Frage stellen? "Ich weiss es nicht" antwortete sie dann und versuchte sich auf die richtigen Worte zu konzentrieren. Das half. "Du hast schon viel getan. Und ich bin sehr dankbar. Ich möchte Frieden. Und Freundschaft. Und Liebe. Alles hast Du mir gegeben. Du... und Dein Vater... ihr habt beide vertraut. Und Dein Vater ist gereitet und versucht Frieden zurück zu gewinnen. Ich bin sehr dankbar."
Das waren, wie sie fand, sehr edle Worte und sie stimmten absolut. Aber sie spiegelten nicht das emotionale Chaos wieder, was Runs Ahead irgendwie durchlitt. Was wollte sie? Sie wollte Nähe. Enge, beschützende Nähe. Sie wollte Victor ganz, ganz dicht an sich spüren, seine Wärme fühlen und seine Hände als Bestätigung seiner Freundschaft und Liebe fühlen. Je enger desto besser. Sie wollte seinen Atem spüren und das feine Kratzen seiner Gesichtshaut, die sie so lustig fand. Und sie wollte seine Worte hören, mit denen er ihr seine Liebe versicherte.
Nenii schien die Antwort auf seine Frage ebenfalls nicht zu kennen - eine Vermutung, die sie schon kurz darauf mit ihrer entsprechenden Aussage bestaetigte. Zunaechst wollte ihm daraufhin der Mut sinken, dann aber fuhr sie fort und dankte ihm dafuer dass er ihr bereits geholfen hatte, er und Vater natuerlich. Anscheinend hatte es fuers Erste zumindest ausgereicht dass er fuer sie dagewesen war, ihr sein Vertrauen geschenkt und ihr zugehoert hatte. Anders als seine frueheren Bekanntschaften in Indien und auf der Reise hierher erwartete sie nicht dass er geistreich war, ihr jeden Wunsch von den Augen ablas und sie permanent zum Lachen brachte. Diese unkomplizierte Art teilte sie mit den anderen Maedchen, dier er hier in der 'Neuen Welt' kennengelernt hatte: Elisa, Sophie, Cassidy, Bonnie und natuerlich Sanuye. Wenn man einmal von Mary absah, schien das hier einfach nicht das richtige Land fuer verwoehnte und anspruchsvolle junge Dinger zu sein.
Fast haette er ueber seine eigenen Gedanken hin die Bitte seiner Freundin verpasst, gluecklicherweise aber drang ihre Stimme zu ihm durch und er schloss sie gerne in seine Arme. Und in dieser Geste lag dieses Mal ueberhaupt kein koerperliches Verlangen; er wollte lediglich einem sehr geschaetzten Menschen Trost und Waerme geben. Es tat gut, Neniis Vertrauen zu spueren als sie sich gegen ihn lehnte und entspannte in einer Beruehrung, die fuer beide Seiten wohltuend war. Obwohl er eigentlich nur sie hatte troesten wollen, spuerte der Junge wie seine eigenen Sorgen und Noete auf einmal ebenfalls weniger gross und ueberwaeltigend erschienen. Er legte seine Wange gegen ihr warmes Haar und genoss den mittlerweile vertraut gewordenen Geruch ihres Haares - wie Sommerblumen duftete es. "Du bist sicher bei mir.", versprach er impulsiv. "Hier kann Dir nichts geschehen, ich werde es nicht zulassen."
Ein seltsames Versprechen war das - und genau genommen auch kaum einzuhalten, das aenderte aber nichts daran dass er es zu hundert Prozent ernst gemeint hatte.
Für einen kurzen Augenblick lang schien es, als wollte ihr Herz zerspringen, so heftig pochte es. Aber dann wurde Runs Ahead in Victors Umarmung wieder ruhiger. Sie war sicher bei ihm, so hatte er ihr versprochen. Ihr würde hier nichts geschehen können. Er würde es nicht zulassen.
Seltsamerweise glaubte das Mädchen ihm das. Wo, wenn nicht in seinem und seines Vaters Haus wäre sie wohl besser behütet? Nicht einmal die Gemeinschaft ihrer Stammesgeschwister konnte ihr Sicherheit garantieren. Das hatte sie schon erlebt. Allerdings war sie noch zu klein gewesen um sich wirklich an das grausame Massaker zu erinnern, was die Weißen unter ihrem Volk angerichtet hatten. Ebenso Sanuye, die die einzige Überlebende ihrer Familie war. Ihresgleichen aber würden die Weißen doch nicht angreifen. Nicht einmal, wenn sie hier war. Oder doch?
Runs Ahead musste sich eingestehen, dass sie das schlichtweg nicht einschätzen konnte. Aber wenn sie es nicht konnte, Victor konnte es sicher. Er kannte seine Leute und er kannte vor allem seinen Vater. Doch, die junge Arapahoe fühlte sich sicher in Victors Armen.
Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Volk. Die Häuptlinge im Fort. Als das Schießen und Kämpfen angefangen hatte. Ob wohl einer von ihnen lebend entkommen konnte? Und ob ihr Volk wohl jetzt alle Sachen packte und floh? Nur wohin? Wahrscheinlich hoch in den Norden, wo auch andere Völker der Menschen schon Schutz vor den nachstellenden Weißen gesucht hatten. Aber sie würde nicht mitgehen können. Wollte sie es denn? Ihre Pflicht wäre es wohl gewesen. Aber würden ihre Eltern es nicht lieber sehen, wenn ihre Tochter, ihr einziges Kind in Sicherheit wäre? Runs Ahead war sich klar darüber, dass diese Sichtweise sehr viel von ihren Eltern verlangte. Aber immer hatte ihre Mutter ihr eingeschärft, dass es hundert Mal schlauer wäre, zu fliehen und sich zu verbergen wenn man es konnte anstatt zu kämpfen. War nun ihre Flucht aus dem Fort und ihr Versteck bei Victor schlau? Immerhin hatte sie ja auch dafür gesorgt, dass der Major Pellow für ihre Leute intervenierte. Ob es etwas helfen würde war eine andere Sache.
Ach, das alles war so schrecklich verworren. Tatsache aber war, dass sie sich hier sicher und wohl fühlte. Und wenn Victor sie hier aufnehmen würde... und sein Vater es zulassen würde... dann würde sie fleißig sein und alle Arbeiten machen, die man ihr auftragen würde. Doch soweit war es noch nicht. Noch bestand Hoffnung. Und an die wollte sie sich gern klammern. So wie an Victor hier. Und jetzt.
Sie ruckelte sich in seinen Armen ein wenig zu recht. Es tat wirklich sehr wohl, ihn zu spüren. So wie gestern oder vorgestern Nacht, als sie beide in seinem Bett gelegen hatten. Sie hatten viel Liebe miteinander gemacht und es war ein wirklich wunderschönes Gefühl, erschöpft und so unendlich glücklich an einen liebenden Mann gekuschelt zu liegen und zu wissen, wie sehr man geliebt wird.
Einen Herzschlag lang schien sich Nenii in seinen Armen zu versteifen, dann aber entspannte sie sich wieder und schien foermlich mit ihm zu verschmelzen. Es war schoen, einem geliebten Menschen derartig nahe zu seine und Victor wusste dass er diesen Moment um nichts in der Welt unterbrechen wuerde. Er hatte nach wie vor nicht so recht begriffen, welche Verpflichtungen ihr neuer Status als seine Freundin und Geliebte fuer ihn mit sich brachte, aber das wuerde er schon noch herausfinden. Erst einmal war es wichtig dass er ihr Sicherheit und Halt gab waehrend sie sich wohl entsetzliche Sorgen um ihre Familie machte. Wenn sie sich auch nur halb so geborgen fuehlte wie er selber es tat, dann machte er wohl zunaechst einmal alles richtig.
Sie begann, sich in seiner Umarmung zu bewegen und einen Augenblick lang fuerchtete er dass sie sich von ihm loesen wollte aber dann entspannte sie sich wieder. Anscheinend hatte sie sich lediglich ein wenig besser positionieren wollen, also war seine Sorge wohl unbegruendet. Versuchsweise hauchte er ihr eine Reihe weiterer kleiner Kuesse auf die Wange, ganz sanft nur um sie nicht mit unangemessener Zurschaustellung von Begierde zu verschrecken. Das fehlte gerade noch, dass sie glaubte dass er ihre Verwundbarkeit ausnutzen wollte! Er fuehlte ihre Waerme und war sich vage bewusst dass die Zeit verging, aber er haette nicht zu sagen vermocht, wie lange sie nun schon beieinander sassen.
Major (a.D.) George Pellow auf dem Weg zurück zu seiner Farm
Der Schneefall war deutlich stärker geworden und der britische Ex-Soldat stellte fest, dass das Klima hier in den Kolonien ganz scheußlich war. Oh, es war nichts, was einen ehemaligen Offizier der Krone ernsthaft bei der Ausübung dessen was er als seine Pflicht ansah behindern konnte aber ein Vergnügen war es in der Tat nicht, bei solchen Witterungsverhältnissen durch die freie Natur zu reiten. Mensch und Tier litten gleichermaßen unter der Kälte und nur die Tatsache, dass es alle naselang immer wieder einmal ein kleines Waldstückchen gab ließ den Weg einigermaßen erträglich sein.
Sein Pferd schüttelte unwillig den Kopf und schnaubte aus, so dass der Major seinen alten Kameraden ermutigend den Hals klopfte. Er wusste, was er von dem Tier verlangte, so wie er immer gewusst hatte, was er von seinen Untergebenen verlangte. Und er war jederzeit bereit, deren Los zu teilen. Ein Offizier, der Respekt und Gehorsam von seinen Männern erwarten will, muss nicht nur bereit sein dasselbe zu erdulden wie seine Untergebenen, sondern muss mehr als das tun. So hatte er es immer gehalten und so hatte er auch nur mit einer zahlenmäßig kleinen Truppe immer Erfolg gehabt, selbst wenn seine Gegner um ein zehn- bis zwanzigfaches überlegen gewesen waren. Er wusste eben, dass er sich auf seine Leute verlassen konnte so wie sie sich jederzeit auf ihn.
Mit einem leichten Lächeln, was aber aufgrund des Schals, den er vor dem Gesicht trug niemand hätte sehen können, dachte er an Victor, seinen Sohn. Er war sehr stolz auf ihn. Dieser junge war zwar ohne Mutter aufgewachsen und dem Major war klar, dass ihm so ein nicht unwesentlicher Teil einer gelungenen Erziehung fehlte, jedoch hatte er den Eindruck, dass Victor aus dem rechten Holz geschnitzt war, dass er durchaus auch ohne die mütterliche Fürsorge zu einem gestandenen Mann heranreifen würde. Aber es war jetzt an der Zeit, die Fühler auch zu der holden Weiblichkeit auszustrecken - etwas, was er aus naheliegenden Gründen nicht selber vermitteln konnte. Aus diesem Grunde hatte er die junge Dame aus Camden Village engagiert und aus ebendiesen gründen duldete er nicht nur die Beziehung zu der jungen Eingeborenen sondern befürwortete sie sogar.
Victor war kein Offiziersanwärter und als solcher unterlag er auch nicht der so viel strengeren Disziplin, die in den britischen Kolonialtruppen herrschte. Und doch war es den dortigen Offizieren keineswegs verboten, gewisse soziale Kontakte zu Eingeborenen zu pflegen, solange es deren eigenen Gesetzen oder Regeln nicht zuwiderlief. Ein Brite hatte ein Gentleman zu sein. Das war alles und es reichte absolut aus. Die Definition war abschließend. Und Victor zeigte nicht nur alle Anzeichen, ein solcher Gentleman zu sein, er war es nach alledem, was der Major meinte zu wissen es bereits.
Und die junge Eingeborene? Ein niedliches Ding, das war schon einmal sicher. Aber sie hatte auch eine ganz gehörige portion Intelligenz, das hatte er bereits festgestellt. Sie sprach die englische (und nicht amerikanische, wie er immer wieder stolz feststellen musste) Sprache dafür, dass sie sie nur wenige Wochen sprach, sehr gut und ihre Umgangsformen, obschon natürlich ungeschliffen, zeugten von einem hohen Maß an Selbstbewusstsein und Charakter. Beides Eigenschaften, die dem Major Respekt abnötigten. Dieses junge Mädchen erinnerte ihn an eine junge indische Dame von hoher Geburt, die er einmal gekannt hatte, die aber leider viel zu früh diese Welt verlassen musste. Rivalisierende Stammesgruppen waren damals das größte Problem gewesen, mit dem sich die Briten herumschlagen mussten und mehr als einmal waren sie dabei zwischen die Mühlsteine geraten. Und so... Er schüttelte nun selber unwillig den Kopf. Diesen Gedanken wollte er nicht weiter verfolgen. Damals hatte sich sein Leben in die Richtung gelenkt, die er seither verfolgt hatte und es war für seine Begriffe ausgezeichnet verlaufen. Aber, und das wusste er innerlich, diese damaligen Ereignisse waren es auch gewesen, die ihn nicht hatten zögern lassen, der dringenden Bitte dieser jungen Eingeborenen so prompt Folge zu leisten. Und sie waren ebenfalls der Grund, weshalb er die ohne Zweifel intime Beziehung die sein Sohn zu dem Mädchen pflegte akzeptierte. Wer wäre er, dass er ihm das verwehrte, was er selber getan hatte und was nur durch eine grausame Laune des Schicksals so jäh und frühzeitig beendet wurde. Nein, sein Sohn sollte gern all die Erfahrungen machen die schön und sinnvoll waren. So würde er nur umso mehr zu einem stolzen und verantwortungsbewussten jungen Mann heranreifen, dessen Anzeichen er schon deutlich trug. Und wenn er dieses Mädchen mochte? Warum dann nicht. Solange er deshalb seine Pflichten nicht versäumte mochte er ihr gerne weiterhin den Hof machen.
Wieder umspielte nun ein Lächeln die Züge des Briten. Das arme Mädchen! Sie hatte nur eins und eins zusammen gezählt und war auf das offensichtlichste Ergebnis gekommen, was sie sich hatte vorstellen können. Und es war ja nicht einmal unwahrscheinlich gewesen! Aus vielen Quellen war eindeutig ersichtlich, dass es ebenso viele tragische Zusammenstöße zwischen dem hiesigen Militär auf der einen Seite und den Kriegern der Eingeborenen auf der anderen Seite gegeben hatte, wie es Sterne am Himmel gab. So mutete es jedenfalls an. Und so lag die Vermutung nahe, dass es auch dieses Mal einen bösen gewaltsamen Zusammenstoß gegeben hatte. Dass eins Solcher und die daraus resultierenden Kämpfe auch einen betrüblichen Einfluss auf sein Leben und das von ihm geschaffene Heim hatten, machte seinen Ritt nur noch dringender. Umso erfreuter war er über das, was er durch den - leider nur stellvertretenden - Kommandant des hiesigen Militärstützpunktes in Erfahrung hatte bringen können. Es gab keinen Krieg und es gab auch keinen Konflikt. Es hatte nur eine kleine Schießerei gegeben bei der dabei sogar noch niemand ernsthaft zu Schaden gekommen war. Nun, diese frohe Botschaft wollte er gern der kleinen Eingeborenen überbringen. Sie würde sich sicher sehr freuen und ebenso sicher würde es auch seinen Sohn erfreuen.
Ein Ruf erklang. Conner, einer seiner Männer, der ihn begleitet hatte, deutete nach vorn. Da war der Zaun. Sie waren zurück. Jetzt einen heißen Tee. Und dann den beiden jungen Leuten die frohe Botschaft bringen...
Runs Ahead und Victor alleine im Salon. Major Pellow kommt hinzu
Runs Ahead wurde langsam wieder schläfrig. Die Erschöpfung, die ihre wilde Flucht aus dem Fort mit sich gebracht hatte meldete sich wieder zurück. Sie mochte und konnte jetzt auch nicht mehr viel Reden. Worüber auch? Runs Ahead hoffte nur, dass Victor ihr Schweigen nicht falsch deutete. Er langweilte sie ja wirklich nicht. Im Gegenteil, das Arapahoe-Mädchen hatte noch nie so viel interessante und aufregende Stunden auf einmal erlebt wie mit ihrem weißen geliebten zusammen. Sei es bei der Jagd im Wald wo sie von einem Wolf angegriffen wurde und Victor sie durch einen mutigen Schuss aus seinem Gewehr gerettet hatte oder sei es mit ihm im Bett wo sie so viel und so schön Liebe miteinander gemacht hatten wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte.
Runs Ahead spürte Victors Wange an ihrem Scheitel und seinen einen Arm um ihre Schultern. Da sie ein wenig kleiner war als er und da sie auch etwas tiefer in dem weichen Sitzkissen lag, war diese Haltung nicht nur sehr bequem sondern auch sehr anheimelnd. Mit ihrer einen Hand tastete sie dann wieder zu Victors anderer Hand und ergriff sie. Erst wollte sie sie wieder zu sich auf die Brust legen doch dann erinnerte sie sich daran, dass das wohl nicht anständig war. Also beließ sie es dabei einfach nur die Hand zu halten. Und etwas zu dösen...
Plötzlich... es mochten nur Minuten vergangen sein oder vielleicht auch eine Stunde... hörte sie eine Tür klappen und Schritte kommen. Sofort fühlte Runs Ahead wieder die Eishand, die ihr Herz fest umklammerte. Sicher war Victors Vater zurück und brachte Neuigkeiten. Der Kopf der jungen Arapahoe begann zu summen und ihr wurde kalt. Unwillkürlich verkrampfte sie ein wenig und hielt Victors Hand sehr fest. O großer Geist, lass es bitte, bitte gute Neuigkeiten sein. Mach, dass wenigstens meine Mutter und mein Vater noch leben. Lass sie gern auf der Flucht sein aber bitte lass sie leben...
Dann ging die Tür zum Wohnraum auf und der bärtige Mann, der Victors Vater war, trat ein. Und auch wenn Runs Ahead keine gute Menschenkennerin war - zumindest, was Weiße anging - so erkannte sie an seinem Gesicht sofort: Es war alles gut! Oder fast zumindest.
Runs Ahead und Victor alleine im Salon. Major Pellow kommt hinzu
Victor war ein wenig ins Traeument gekommen waehrend Nenii in seine Arme gekuschelt einfach still dagesessen hatte. Er konnte nicht annaehernd ermessen was gerade im Kopf seiner Geliebten vorgehen musste. Obwohl ... eigentlich stimmte das ja gar nicht - auch wenn er selber wesentlich juenger gewesen war als er an jenem Morgen seine Eltern verloren hatte, so verfolgte ihn dieser schwarze Tag noch heute in seinen Alptraeumeen. Er war mit einem Schlag allein auf dieser Welt gewesen und ein wenig von dieser Einsamkeit hatte sich in sein Herz gefressen und war niemals so ganz verschwunden. Daran hatte auch der Major nicht aendern koennen, der sich seiner mit unglaublicher Hingabe angenommen hatte und er den gelegentlich so kuehl wirkenden Offizier liebte wie einen wirklichen Vater. Nun, er war sein wirklicher Vater geworden. Dennoch ... dieses kleine schmerzhafte Loch in seiner Seele hatte Niemand heilen koennen und er betete instaendig dass Nenii nun nicht dasselbe erleben wuerde.
Irgendwie musste er ein wenig eingenickt sein denn ploetzlich hoerte er schwere Schritte auf dem Flur und er loeste sich ebenso sanft wie bedauernd von Nenii. "Ich wuerde Dich am Liebsten weiter halten, aber bei uns ist das vor Anderen sehr unangemessen.", erklaerte er rasch waehrend er aufstand und seine Kleidung zurechtzupfte. Er stellte sich in angemessener Haltung neben seinem Gast auf ... und erinnerte sich erst jetzt dass sie praktisch unbekleidet war. Aber daran liess sich leider nichts mehr aendern denn nur wenige Sekunden spaeter betrat der Major den Raum, waehrend Zhuáng mit den Maenteln davon eilte. Der Junge hatte die stets tadellose Haltung seines Vaters stets bewundert, nun aber wuenschte er dass der ehemalige Soldat ein wenig offener waere. Nicht dass ihm selber das viel helfen wuerde aber zumindest Nenii wuerde ihm dann ansehen koennen ob er gute oder schlechte Nachrichten brachte.
Muehsam seine Haltung bewahrend rueckte Victor seinem Vater einen Sessel zurecht und wartete ab was nun geschehen mochte.
Conner hatte die Pferde genommen und sie in den Stall geführt wo er die Tiere abgesattelt und dann mit Stroh sorgfältig abgerieben hatte. Warmes Wasser und gutes Futter würden dann zusätzlich dafür sorgen, dass keines der treuen Weggefährten erkranken würde auch wenn dieser Ritt die Tiere recht anständig gefordert hatte. Doch die Pferde waren gesund und kräftig und es war zu keinen Unfällen gekommen. Also durfte man getrost davon ausgehen, dass die Tiere keinerlei Probleme bekommen würden.
George Pellow seinerseits war in die Diele getreten wo sein treuer Diener Zhuàng sogleich da war um ihm den schweren Wettermantel abzunehmen. Das gute Stück war gefüttert und wasserabweisend - ein Meisterwerk britischer Handwerkskunst und bei den Truppen in den Kanadas äußerst beliebt. Bei guter Pflege würden noch Victors Enkel davon Nutzen tragen, sofern das notwendig sein sollte.
Gorge Pellow dankte dem treuen Chinesen und begann sich schon zurecht zu legen, wie er der jungen eingeborenen Freundin seines Sohnes - es kam dem Major nie in den Sinn von Victor anders zu denken - die freudige Nachricht überbringen mochte. Britisches Understatement, natürlich, aber do so, als dass sie es auch verstehen würde. Andererseits war dieses junge Mädchen mit einem recht hellen Köpfchen gesegnet, was den Major seinerseits noch faszinierte. Sicherlich würde sie, sofern er nicht allzu komplizierte Worte wählte, den Sinn seiner Ausführungen durchaus folgen können.
Ein kurzer Blick - die Kleidung saß trotz des langen Rittes ansprechend - dann betrat der Major den Wohnraum in dem er Victor und die junge Eingeborene wusste. Und er schmunzelte leicht. Victor hatte sich erhoben, wie es sich für einen Gentleman geziemte. Major Pellow hatte immer Wert auf ein tadelloses Äußeres - sowohl was Kleidung als auch das Auftreten anging - gelegt. Victor hatte sich hier als ein dem Umständen entsprechenden sehr gelehriger Schüler erwiesen. Und auch jetzt hatte sein Sohn sich nichts vorzuwerfen. Dennoch entging dem geschulten Blick des Majors nicht, dass sein Sohn eine etwas... verlegene Frisur trug. Entweder war er im Sessel eingenickt oder aber er hatte ein paar sicher wohl harmlose Zärtlichkeiten mit dem zugegebenermaßen äußerst attraktiven Mädchen ausgetauscht. Nun, George war der letzte, der seinem Sohn hier einen Vorwurf machen würde. Dennoch... er konnte nicht umhin, Victor kurz zuzuzwinkern und dann seinerseits mit der rechten Hand über sein eigenes makelloses Haar zu fahren.
Die junge Eingeborene hatte Victors Beispiel folgend sich ebenfalls erhoben. Ihr Haar war der typisch indianischen Haartracht entsprechend natürlich tadellos in Ordnung, jedoch hatte sie ihre eigene Kleidung abgelegt und trug stattdessen einen Hausmantel, der allerdings nicht so gänzlich sittsam geschlossen war. Nun, sie war eine Eingeborene und solange sie keine Schamlosigkeit zur Schau stellte, war das völlig in Ordnung so. Viel interessanter war ja ihr Minenspiel. Das junge Mädchen... richtig, jetzt fiel ihm ihr Name wieder ein Runs Ahead!.. wirkte erstaunlicherweise recht gefasst und sah ihn eher mit froher Erwartung an anstatt voller Sorge. Es mochte sein, dass sie sein recht frühes Zurückkommen und sein seinerseits recht entspanntes Auftreten schon richtig gedeutet hatte. Auch das sprach für ihren wachen, wenn auch ungeschulten Geist, der ihm ja auch schon zuvor positiv aufgefallen war. Sehr schön.
"Guten Tag, Miss Runs Ahead. Victor." Er nickte den beiden jungen Leuten zu und deutete auf den Tisch. "Ich möchte euch beide gar nicht lange auf die Folter spannen. Setzen wir uns, dann möchte ich berichten."
Sie nahmen Platz und George bemerkte, dass Victor ihm aufmerksam den Sessel zurecht rückte ehe er dasselbe für das Mädchen tat. Dann begann er: "zunächst einmal, Miss Runs Ahead, die gute Nachricht: Es gibt keinen Krieg. Eure Häuptlinge sind allesamt mit ihren Leuten und einigen Wagen voller Lebensmitteln und anderen Gütern zurück ins Reservat gekehrt. Euer Volk, ebenso wie die Cheyenne und die Oglala werden diesen Winter keinen Hunger leiden müssen. Und es wird weiterhin Frieden herrschen."
Es freute den alten Soldaten, dass die junge Eingeborene ihn nun ob seiner Worte geradezu anstrahlte. Und natürlich wollte sie sofort aufspringen und ihn mit Fragen bestürmen. zumindest merkte er, dass es sie kaum noch auf dem Sessel halten konnte. Doch eine erhobene Hand seinerseits, die Aufmerksamkeit forderte, ließ sie schweigen. Wenn auch nur knapp. "Sie haben aber richtig beobachtet. Es hatte in der Tat etwas Unruhe gegeben."
Das war das Understatement. Und Major Pellow sah sofort ein, dass das Mädchen mit dieser typisch britischen Art sich auszudrücken nicht so recht zurecht kam. Also erklärte er: "Es waren Schüsse gefallen. Aber, und das ist sicher, es wurde niemand getroffen. Ein Mädchen namens..." er holte einen kleinen Block hervor und las nach "Sannjuhee wurde leicht verletzt als sie stürzte. Und ein anderes Mädchen namens... Anuwahuu... wurde bei dem Versuch einen Zivilisten... einen... Nichtkrieger also... anzugreifen, niedergeschlagen. Aber auch sie wurde nur leicht verletzt. Der Weiße dagegen hatte eine üble Wunde durch einen Messerstich abbekommen."
Er legte den Block auf den Tisch und sah seinen Sohn und dann das Mädchen streng an. "Es gibt also keinen Krieg. Aber diese beiden Mädchen wie auch zwei eurer Krieger wurden verhaftet und in die Stadt gebracht. Eine Gruppe Weißer. Büffeljäger, wie ich verstanden habe, haben behauptet, dass die Vier ihre Jagdgruppe angegriffen und einige von ihnen getötet haben. Diese Angelegenheit wird nun untersucht."
Er legte seine Hände aneinander und lehnte sich zurück. "Das ist nun ein wenig diffizil. Aber es besteht kein Grund zu übertriebener Sorge. Allein die Tatsache, dass es zu einer Untersuchung kommt bedeutet, dass diese Anschuldigung zwar grundsätzlich ernst genommen wird, jedoch nicht sofort davon ausgegangen wird, dass diese Büffeljäger die Wahrheit sagen. Wäre das so, hätte man sich nicht eine solche Mühe gemacht sondern eure Krieger und möglicherweise auch die Mädchen sofort erschossen."
Er lächelte dem Mädchen ermutigend zu. "Sie können also beruhigt sein und heute gern wieder zu Ihren Leuten zurückkehren, Miss Runs Ahead. Victor wird morgen in der Stadt sein und versuchen, etwas Neues zu erfahren. Und wir werden Ihnen diese Informationen dann gern zukommen lassen. Es wird sicher alles gut werden aber das wichtigste ist ja nun, dass es keinen Krieg gibt, nicht wahr?"
Major Pellow fühlte sich irgendwie zurückversetzt nach Indien, wo er mehr als einmal mit den dortigen Eingeborenen verhandelt hatte. Und seltsamerweise machte ihm das Gespräch mit diesem Mädchen Spaß. Sie war hübsch, ein klein wenig naiv sicher aber doch erstaunlich intelligent. Und er ertappte sich bei dem Gedanken, dass er erstaunlicherweise gar keine Einwände dagegen hatte, wenn sein Sohn sich häufiger mit diesem Mädchen zu treffen wünschte. Solange seine Arbeiten darunter nicht litten, versteht sich.
Anscheinend hatte Vater an seinem Aufzug nichts Ernsthaftes zu beanstanden, er wies lediglich mit einem Augenzwinkern und einer bezeichnenden Handbewegung auf ein Problem mit der Frisur hin. Victor erroetete und fuhr sich so unauffaellig er konnte durch die Haare um das Problem zumindest so einigermassen zu beheben. Schlimm konnte es ohnehin nicht sein, ansonsten haette der Major nicht amuesiert sondern mit einer Zurechtweisung reagiert. Dennoch war er ganz froh dass er sich im Hintergrund halten und die Buehne Anderen ueberlassen konnte und er war sehr erleichtert dass keine Kommentare zu Neniis unpassender Bekleidung folgten. Statt dessen kam der ehemalige Offizier umgehend auf den Grund seines Ausritts zu sprechen.
Erleichtert hoerte er dass es nicht zu der von der jungen Indianerin befuerchteten Schlacht oder gar einem Krieg gekommen war. Unwillkuerlich hatte er eine Hand auf ihren Unterarm gelegt um ein wenig zumindest die Freude mitzuteilen, die er fuer sie empfand. Und wieder einmal ging ihm durch den Kopf wie reizend Nenii war, besonders wenn sie - wie jetzt gerade - mit funkelnden Augen strahlte. Dabei musste Einem doch einfach das Herz aufgehen wenn es nicht aus Stein gemacht war! Wie gerne haette der Junge sie nun umarmt aber das haette ihm mit Sicherheit eine strenge Zurechtweisung eingebracht. Und ausserdem wusste er ja noch nicht ob Vater ihrer Liaison ueberhaupt zustimmen wuerde ... nein, er wuerde Vorsicht walten lassen muessen.
Dann allerdings erschrak er als er erfuhr dass Sanuye und ihre Familie verhaftet worden waren, das waren ja schlimme Nachrichten. Auch wenn er es sich nicht anmerken liess - erstens weil es sich nicht gehoerte und zweitens um Nenii nicht zu beunruhigen - er empfand Besorgnis fuer die stolze Kriegerin. Natuerlich wuerde er sich morgen noch in der Stadt umhoeren und sich dann mit den Neuigkeiten zu Nenii auf den Weg machen. Zu seiner Schande musste er sich eingestehen dass er sich auf diesen Botengang durchaus auch aus sehr eigennuetzigen Motiven freute. Aber er beantwortete Vaters Anweisung mit einem hoeflichen Nicken und hielt sich ansonsten einstweilen aus der Unterhaltung heraus.
Runs Ahead war zusammen mit Victor aufgestanden als dessen Vater eingetreten war. Offensichtlich gehörte das bei den weißen Leuten zu den Höflichkeitsgeboten. Sie wollte sich das gut merken, damit sie keine unnötigen peinlichen Fehler machen würde in Zukunft. Victors Vater wirkte recht gut gelaunt und nachdem er ihnen zugezwinkert und sein ohnehin ordentliches Haar noch einmal glatt gestrichen hatte, bat er sie beide sich zu ihm an den Tisch in die weichen Stühle zu setzen. Runs Ahead war das nicht so recht, konnte sie ohnehin vor Aufregung kaum still stehen geschweige denn sitzen. Dann saßen sie und zum Glück wartete Major Pellew nicht länger und berichtete.
Es hatte keinen Krieg gegeben! Runs Ahead atmete keuchend aus, nachdem sie die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte. Instinktiv wollte sie Victors Hand greifen die auf ihrem Unterarm gelegen hatte, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne. Möglicherweise war das Victor gar nicht recht. Wichtig auch war, dass wohl Schüsse gefallen waren, wohl aber doch niemand getroffen worden war. Sanuye lebte. Und auch Anovaoo'o. Vor Erleichterung ballte Runs Ahead die linke Hand und umfasste die Faust mit ihrer Rechten und presste beide Hände dann gegen ihren Mund. Das waren wirklich sehr, sehr gute Nachrichten.
Doch dann kam es: Während der ganze Stamm mit den Häuptlingen unversehrt und mit Geschenken und Nahrungsmitteln beladen zurück ins Lager konnte, mussten Sanuye und Anovaoo'o, Mo’ôhtaveo’kome und Ó'kêséena mit den weißen kriegern in die Stadt. Sie wurden dort beschuldigt, Weiße Männer getötet zu haben.
Runs Ahead wurde blass. Das... konnte durchaus möglich sein. Sie wusste genau, dass die beiden Frauen sehr aufgewühlt waren, als sie zusammen mit den Cheyenne zurückgekommen waren. Aber Runs Ahead hatte das auf die überwältigende Neuigkeit zurückgeführt, dass sie ihre eigenen Leute gefunden und so gerettet hatten. Von ein paar Weißen, die dabei getötet wurden, wusste sie nichts.
Aber so oder so war das fast einerlei. Wenn Chief golden Leaf, der weiße Häuptling, die vier gefangen genommen hatte, dann würde es ernst werden. Und wenn Old Man Chief Satanta das zuließ, dann musste da auch etwas dran sein. Die vier würden kein Opfer für den Frieden sein, das der Häuptling darbrachte. Das stand schon einmal fest. Satanta tat so etwas nicht. Niemals.
Sie seufzte tief. Dann senkte sie den Kopf. "Ich danke Dir, Major Pellew, dass Du mir diese wichtige Nachricht gebracht hast. Ich bin Dir wirklich sehr dankbar. Das war keine Selbst... Selbstver... Das war keine einfache Sache. Und ich bin sehr glücklich, dass mein Volk in Frieden gehen konnte. Ich bin sehr froh, dass kein Krieg ist. Kein Blut muss fließen und keine Tränen. Auch dafür bin ich dankbar."
Sie versuchte ein Lächeln und sah den Major an. "Leider ist Sanuye meine liebste Schwester. So wie auch ihre Frau Anovaoo'o. Und wenn Victor in die Stadt geht morgen... ist es klug, wenn ich mitgehe? Ich glaube nicht, ja?"
Victor konnte Neniis Erleichterung beinahe koerperlich spueren, sogar bevor sie beinahe seine Hand in die Ihrige genommen haette. Warum das so war, das wusste er nicht genau zu sagen, vielleicht war ja etwas dran an diesen Geschichten ueber das Band zwischen Verliebten. Erneut wurde ihm bewusst dass es eigentlich keine logische Grundlage fuer die starke Verbundenheit gab, die zu der jungen Indianerin empfand. Sie kannten sich doch eigentlich kaum und entstammten vollkommen unterschiedlichen Welten mit nur wenigen Beruehrungspunkten. Das musste diese mysterioese "Liebe auf den ersten Blick" sein, ueber die er sich in Geschichten immer wieder amuesiert hatte. Er hatte niemals auch nur annaehernd daran geglaubt und nun hatte sie ihn erwischt und mit Haut und Haaren verschlungen. Und so musste er sich staendig zusammenreissen damit er nicht den ganzen Tag mit einem unangemessenen dummen Grinsen umherlief.
Nenii hatte die Implikationen der Verhaftung durchaus verstanden und wirkte ausgesprochen besorgt; wie gerne haette er troestend einen Arm um sie gelegt. Aber so milde Vater gestimmt zu sein schien, einen derartigen Verstoss gegen die guten Sitten haette er niemals akzeptiert. Daher beschraenkte sich der Junge auf ein - wie er hoffte - ermunterndes Laecheln und hoffte dass Vater ihr bestaetigen wuerde, dass sie in dieser angespannten Lage wirklich nicht ins Dorf gehen sollte. Es waren dort ein paar Idioten unterwegs, die schon unter normalen Umstaenden keine Gelegenheit ausliessen, die 'Wilden' in ihre vermeintlichen Schranken zu weisen. Jetzt wo es Tote gegeben hatte, waere es mehr als tollkuehn fuer Nenii, sich dort sehen zu lassen ... und er wollte doch nicht das ihr etwas zustiess!
Aufmerksam und vertrauensvoll schaute er seinen Vater an und wartete auf dessen Erwiderung.
George Pellow, Major a.D. der Armee seiner königlichen Majestät hatte gewisse Standards von denen er unter keinen Umständen abzuweichen gedachte. Und diese Standards hatte er auch seinem Sohn nahegebracht und erwartete dementsprechend auch, dass dieser sie einhalten würde. Entsprechend war er auch zufrieden, dass Victor sich nicht nur Mühe gab sondern seine Lektionen auch verinnerlicht hatte. Das war gut so. Kein wirklicher Gentleman würde sich wie einer dieser amerikanischen Bauerntölpel verhalten.
Zu seiner Überraschung aber hatte sich auch diese niedliche Eingeborene erhoben und ihm so Respekt gezollt. Das war bemerkenswert und weckte die Forscherseele in ihm. Oder aber sie hatte so schnell von seinem Sohn gelernt, was auf eine erstaunliche Auffassungsgabe und einen offenbar angeborenen Sinn für Höflichkeit schließen ließ. Das oder die Gesellschaftsstrukturen der eingeborenen waren doch deutlich fortschrittlicher als er zunächst angenommen hatte. So oder so war es bemerkenswert und entsprechend wohlwollend nickte er der jungen Frau zu.
Mit einem gewissen Amüsement bemerkte er dann, dass das Mädchen bei der Verkündung der frohen Botschaft Halt und Bestätigung bei seinem Sohn zu suchen versuchte, dann aber offenbar merkte, dass dies in der gegenwärtigen Situation nicht unbedingt opportun wäre und ihren Versuch schnell aufgab. Hmm. Entsprechend machte er sich gewisse Sorgen, ob sie wohl bei dem Folgenden ähnlich besonnen reagieren würde. Doch das tat sie. Erstaunlich gefasst nahm sie zur Kenntnis, dass vier ihres Volkes unter Anklage gestellt wurden. Bemerkenswert, wenn man bedachte, dass, wie er hören musste, zwei dieser Vier Eingeborenen offenbar ihre Freunde waren. Das war keine gute Nachricht. Denn der Major war sich durchaus bewusst, dass die Chance auf einen Freispruch oder auch nur auf eine glimpfliche Behandlung sehr gering war. Die Amerikaner zögerten nie, wenn es darum ging, ungeliebte Elemente aufzuhängen.
Kurz merkte er auf, als er hörte, dass hier offenbar eine Frau eine andere Frau zum Ehepartner hatte. Er hatte von dieser Unsitte gehört. Nun, es waren ja auch keine Christen, diese Eingeborenen. Da wollte er keine zivilisierten britischen Maßstäbe ansetzen. Solange sie sich nur friedlich verhielten war es schon gut. Und da Victor offenbar sehr viel an diesem Mädchen lag, wollte er gern tun, was er konnte.
"Sie haben die gegenwärtige Situation richtig eingeschätzt, Miss Runs Ahead." meinte er dann. "Ihre Anwesenheit in der Stadt wäre wohl eher kontraproduktiv. Victor wird sein Möglichstes tun um zu erfahren, was eigentlich los ist. Und wir werden beide sehen, was wir tun können um ihre Leute vor ungerechter Behandlung zu schützen. Daher wird es sicher das Beste sein, wenn Sie alsbald zu ihren Leuten zurückkehren und ihnen auch berichten, was vorgefallen war. Ich bin übrigens sicher, dass Ihre Eltern sich sehr freuen werden, von Ihnen zu hören. Sicher machen sie sich schon Sorgen."
Dann wandte er sich an seinen Sohn. "Victor, ich habe noch das eine oder andere zu tun. Wenn Du Dich bitte weiterhin unserem Gast widmen würdest. Miss Runs Ahead, es war mir ein außerordentliches Vergnügen, erneut Ihre Gegenwart erfahren zu haben. Aber bitte entschuldigen Sie mich. Ich habe noch Pflichten, denen ich mich widmen muss."
Er erhob sich, strich seine Weste glatt, verbeugte sich und zog sich dann zurück. Sein ganzer Tagesplan war durcheinander geraten aber auch wenn ihm solcherlei Unabwägbarkeiten zuwider waren musste er sich eingestehen, dass er diese anstrengende und entsprechend lästige Pflicht doch gern getan hatte. Wurde er auf seine alten Tage etwa weich? Nein. Er schüttelte den Kopf. Aber es war ein gutes Gefühl, solche Hilfe geleistet zu haben. Und es erinnerte ihn an seine Zeit in Indien. So viele verpasste Möglichkeiten damals. Und er würde den Teufel tun, seinem Sohn nun dessen Möglichkeiten zu nehmen.
Der Major, Victors Vater, verließ sie beide dann wieder nachdem er sich verabschiedet hatte. Nun war sie wieder mit Victor alleine. Aber es ging ihr so viel vielmals besser als eben noch. Es war kein krieg. Ihr Volk lebte und es ging ihm gut. Dennoch mochte sich keine wirklich Erleichterung bei dem Mädchen einstellen, da ihre Freundin und deren Frau sowie zwei weitere Cheyenne-Krieger in der Gewalt der Weißen waren. Und was solche Art von Gewalt bedeutete, konnte Runs Ahead sich sehr lebhaft vorstellen.
Sie hatte dem Major noch einmal deutlich zugenickt. Als er den Raum dann verlassen hatte, war sie geradezu zu Victor herum geflogen und hatte ihre Hände auf seinen Schultern ehe sie überhaupt denken konnte. "Victor, Du musst bitte schnell gehen und schauen, was mit Sanuye ist. Ich habe solche Angst. Ich..."
Dann brach sie ab. Ihr Gehirn hatte sich wieder eingeschaltet und das Mädchen bemerkte, wie unverschämt sie sich im Augenblick gerade benahm. Eben hatte sie mit ihrer Angst Victors Vater zu einem stundenlangen Ritt durch Schnee und Eis bewogen und kaum dass er zurück war und ihr berichten konnte, dass ihre Ängste unbegründet waren, wollte sie nun Victor zu einem ähnlichen Ritt auffordern. Beschämt schlug sie die Augen nieder. "Verzeih!" murmelte sie. "Ich... es tut mir leid. Ich wollte nicht unhöflich sein. Ich will tapfer sein. Ich will nicht drängen. Ich bin nur voller Sorge, was Sanuye wohl passiert sein mag. Wieso ist sie gefangen? Wieso soll sie einen Weißen getötet haben? Und was wird ihr nun geschehen?" Sie schluckte schwer. "Victor, ich möchte so gern wissen. Aber es ist falsch, wenn ich in die Stadt reite, ja? Vielleicht kann ich selber nun wieder zu das Fort und fragen? Es ist ja nun kein Krieg, nicht wahr? Da darf ich doch dorthin?"
Kaum hatte Vater den Salon verlassen, da hatte Nenii sich wieder in seine Arme gekuschelt und ihr verzweifelter Apell schnitt ihm ins Herz. Gerne haette er auf ihre dann folgende Entschuldigung geantwortet, ihr mitgeteilt dass sie ueberfluessig war aber sie liess ihn gar nicht zu Wort kommen. Geduldig wartete er auf eine Pause in ihrem Redefluss und versuchte lediglich, ihr durch seine Naehe Sicherheit und Trost zu spenden. "Soweit ich Vater verstanden habe, sind die Gefangenen in die Stadt gebracht worden.", erinnerte er sie sanft. "Die Soldaten im Fort werden also nicht besonders viel darueber wissen, wie es ihnen im Augenblick geht, abgesehen davon dass es mir lieber waere wenn Du jetzt nicht dorthin reiten wuerdest. Denn so kurz nach einem solchen Durcheinander werden die Gemueter dort vermutlich noch ziemlich erhitzt sein - was durchaus keine gute Voraussetzung fuer ein vernuenftiges Gespraech ist."
Er liess seine Worte einen Moment lang wirken und fuhr dann fort: "Warum reite ich nicht ins Dorf und finde dort heraus was ich kann waehrend Du Dich hier ein wenig ausruhst? Ich kenne Major Sheppard recht gut und ich denke dass er mir erzaehlen wird was nun passieren soll, besonders wenn ich erwaehne dass es um Familie geht." Sanft - und vielleicht eine Spur zoegerlich - strich er durch die Haare seiner Geliebten und schaute ihr liebevoll in die Augen. "Dein Tag war schlimm genug, Nenii, bitte lasse mich Dir ein wenig von Deiner Buerde abnehmen, Du kannst ja in der Zwischenzeit die Photos anschauen damit Dir die Zeit nicht zu lang wird. Einverstanden?"
Hoffentlich hatte er sie uebezeugt, die Menschen hier hatten Sanuye schon an einem ganz normalen Nachmittag brutal angegriffen, was mochte erst passieren nachdem Weisse zu Tode gekommen waren? Natuerlich bedrueckte es ihn dass seine Freundin in so eine Sache verwickelt gewesen war aber er konnte sich einfach nicht vorstellen dass sie einen Mord begehen wuerde. Wesentlich wahrscheinlicher war es dass sie sich lediglich verteidigt hatte nachdem sie angegriffen worden war. Oder? Er war wirklich schlecht im Einschaetzen von Menschen, sollte er sich wirklich so in ihr und ihren Ehepartnern getaeuscht haben? Nun, selbst wenn, dann wuerde das keinen Unterschied machen, denn in erster Linie ging es ihm gerade darum, Nenii so gut es ging aus jedweden Gefahren heraus zu halten. Daher waren die anderen Faktoren eigentlich so ziemlich irrelevant!
Victor machte sich Sorgen. Das tat er ebenso wie sie selber, aber darüber hinaus machte er sich auch sorgen um sie. Das war sehr lieb aber sie war doch nicht mehr in Gefahr oder doch? Nun, er als Weißer würde wohl besser wissen, wie weiße Soldaten dachten. Und wenn er annahm, dass sie im Fort im Augenblick nicht sicher wäre, dann wollte Runs Ahead das auch glauben. Auch wenn es schwer war, jetzt nichts tun zu können.
Ein anderer Gedanke kam ihr. Wenn Sanuye, Anovaoo'o und zwei andere Krieger in die Stadt gebracht wurden und die übrigen ihres Volkes zurück gekehrt waren, würde man sie dann nicht vermissen? Ein Mädchen, das fehlte, ein Pony, was weg war... Sicherlich würden sich ihre Eltern jetzt Sorgen machen. Und das war nicht gut. Nein, sie musste eigentlich jetzt zurück ins Lager.
Victor bot sich an, seinerseits in die Stadt zu reiten und Nachforschungen anzustellen. Das war gut. Sie selber sollte hier bitte auf ihn warten. Das aber ging nicht. Also lächelte sie ein wenig traurig und meinte: "Ich muss heim. Meine Eltern... niemand weiß, wo ich bin. Sicherlich sind sie in Sorge. Ich wäre Dir dankbar, wenn Du in der Stadt schauen könntest, wo meine Freunde sind. Aber ich kann nicht hier warten. Ich werde heimreiten und dann morgen oder übermorgen wieder zu Dir kommen. Ja?"
Nachdem sie sich darüber einig geworden waren, ging es daran, sich für den Ritt fertig zu machen. Runs Ahead hatte einen schönen dicken Mantel. Und ihre Fellschuhe waren auch wieder schön trocken. Sie war also gut gerüstet für einen etwa zweistündigen Ritt zurück ins Lager. Es war auch gut, jetzt zu reiten. Es schneite zwar noch etwas aber es war Mittag und somit so hell wie es nur sein konnte. Victor war mit ihr in den Stall gekommen. Hier hatten die Tiere ein eigenes Haus, das die Kälte und den Schnee draußen hielt. Und sie hatten sehr viel Futter. Kein Wunder, dass die Pferde der Weißen so groß waren.
Wintersturm knabberte etwas gelangweilt an einigen Halmen herum und Runs Ahead hatte Victor im Arm. "Ich danke Dir für Deine Liebe!" sagte sie und sah ihn mit liebenden Augen an. "Und für alles, was Du für mich getan hast. Und bitte sag Deinem Vater auch Danke. Er hat mir sehr große Ruhe gebracht. Und... auch Tsu-Ang für das leckere Essen und für trockene Sachen und... als, ihr seid alle sehr lieb. Danke dafür!" Am liebsten wäre sie noch Stunden so stehen geblieben, Victor im Arm. Aber das ging nicht. Sie musste aufbrechen. Also machte sich Runs Ahead widerstrebend los und schwang sich auf ihr Pony. "Ich liebe Dich!" rief sie ihm zu, winkte noch einmal und ritt dann langsam hinaus in die schneeverhüllte Landschaft.