Natürlich war Sarah in der Lage, das Unwohlsein ihres Vormunds deutlich zu spüren. Dennoch verhielt sie sich ruhig, allen Anzeichen von Schmerzen zum Trotz, die er zeigte. Das lag weniger an ihrer Selbstbeherrschung, die nicht weiter entwickelt war als die jedes anderen Kindes in ihrem Alter. Es war vielmehr – wie so oft – ihre Angst, die Sarah beherrschte. Das Gefühl, das sie am häufigsten verspürte und am besten von allen kannte. Und es lähmte sie. Wie stets, wenn sie sich fürchtete, hielt sie still und konnte nicht mehr tun, als stumm zu beten, damit Mama oben im Himmel bei Gottvater ein gutes Wort einlegte und der die Situation löste, die sie ängstigte. Sie fühlte sich furchtbar hilflos, als ihr Onkel so angeschlagen erschien. Schließlich hatte er zu einem gewissen Teil die Stelle ihrer Mutter eingenommen, und die war von klein auf das unfehlbare Vorbild für sie gewesen. Er durfte nicht wanken oder zögern – er mußte einfach alles wissen und können!
Daß es in der Realität nicht so war, blendete Sarah nur zu gern aus. Doch in Situationen wie dieser war das nicht möglich. Sie sah, wie er mit etwas kämpfte, das sie nicht erfassen konnte, und ihr machte der Gedanke Angst, daß er unterliegen könnte. So stand sie zwar rein äußerlich ruhig vor ihm, das Bild des braven Mädchens, in ihrem Sonntagsstaat, die Hände artig vor dem Bauch gefaltet. Doch in ihrem Inneren sah es weit weniger ruhig aus. Die Furcht flackerte in ihren Augen, die groß und rund auf ihren Vormund, ihren Beschützer und den einzigen Menschen gerichtet waren, zu dem sie richtiges Vertrauen hatte. Ihre Lippen waren fest aufeinander gepreßt, und sie wagte sich nicht zu rühren, um ihn nur ja nicht zu stören oder zu belasten, nicht jetzt. Vielleicht geschah etwas ganz schreckliches, wenn sie ihn ablenkte! So wenig sie aber zu helfen vermochte, ihr Empfinden war um so mehr geschärft. Das Mädchen hörte sehr genau heraus, wie bemüht Eric um einen ruhigen Ton war und welche Mühe es ihm machte, normale Worte zu ihr zu sprechen.
Sie fühlte auch, daß ihm noch etwas anderes Kummer machte, aber daß sie, oder vielmehr ihre Zeugenschaft für seinen Schwächeanfall, der Grund dafür sein könnte, kam ihr nicht in den Sinn. Stolz und Ehrgefühl des erwachsenen, gestandenen Mannes waren doch weit mehr entwickelt, als es sich ein kleines Mädchen vorstellen konnte, das gewohnt war, weinen oder um Hilfe bitten zu dürfen, ohne daß es jemand darum schräg angesehen hätte. Ihre großen Augen folgten Erics Bewegungen, als er sich mühsam hochstemmte. Noch immer schwieg sie, als habe sie Bedenken, mit einer unbedachten Bewegung oder einer lauten Äußerung etwas Schlimmes zu verursachen. Zugleich folgte ihm ihr Blick aufmerksam und ängstlich besorgt. In dem Moment, in dem er wankte, vergaß sie jedoch ihren Vorsatz und lief mit ausgestreckten Armen auf ihn zu, als könne sie mit ihren schwachen Kräften ihn auffangen, falls er fallen sollte. "Onkel Eric..!" Sarahs Stimme klang hell, fast ein Quietschen war es, vor lauter Angst um ihn.
Doch da hatte er schon die Versicherung herausgebracht, es sei alles in Ordnung. Nicht daß sie ihm das ohne weiteres geglaubt hätte, doch sofort blieb sie stehen und ließ ihre schmalen Ärmchen wieder sinken. Seine Worte hatten eine sehr dringende Bitte enthalten, wie sie glaubte. Die Bitte, ihn nicht bloßzustellen, wie ihr mit einem Schlag klar wurde. Vielleicht, so traf sie plötzlich der Gedanke, hatte ja Onkel Eric auch Angst vor dem Moment, in dem er nicht mehr mit etwas fertigwerden, in dem er selbst Hilfe brauchen würde? Sie war gewohnt, Hilfe zu brauchen, hatte sich abgewöhnt, allzu großen Stolz zu pflegen. Denn das konnte man sich als solch ein Angsthase, der sie nun einmal war, auch kaum leisten. Doch für Onkel Eric mußte es etwas anderes sein, dämmerte ihr langsam. Für ihn war es vielleicht genauso wichtig, nicht schwach zu sein, wie es für sie wichtig war, nichts auf Mama kommen zu lassen. Jeder von ihnen hatte ein Ideal, an dem er sich orientierte, und dem einen Kratzer zuzufügen hieß, sich selbst zu verletzen. So war seine Bitte für sie plötzlich wie ein Befehl gewesen. Unentschlossen stand sie nun da, auf halbem Wege zu ihm und schon bedauernd, was sie soeben getan hatte. Mit gesenktem Kopf und ohne ihm direkt ins Gesicht zu sehen wandte sie sich schließlich in Richtung ihres Zimmers, wo ihre Haube und der Sonntagsmantel ordentlich auf dem Bett bereit lagen. "Dann zieh ich mich jetzt für draußen an, Onkel Eric, ja..?" Ihre Stimme klang ganz leise und verschüchtert.
Eric bekam am Rand mit, wie Sarah hilflos erschien, sogar auf ihn einige Schritte zugemacht hatte, als er ein wenig wankte, dann aber sofort innehielt. Und es tat Eric in der Seele weh, dem Mädchen nicht wirklich sagen zu können, was los war, nein, ihr zu sagen, dass er wirklich schon damit klar kam. Denn wäre es nicht auch gelogen? Sie hatte ja gesehen, dass er leicht wankte, auch wenn er sich noch rechtzeitig an der Stuhllehne hatte festhalten hatte können. Ja, da waren wieder diese Gedanken. Wie verhielt man sich einem Kinde gegenüber richtig? Er wollte Sarah nicht ängstigten. Besonders sie nicht, sie voller Angst war, wie er glaubte zu wissen, auch wenn er es hatte noch nicht ergründen können. Aber zu sagen, es wäre alles in Ordnung, obwohl es nicht den Anschein hatte, war doch auch unehrlich und nicht richtig.
Aber Sarah schien instinktiv etwas zu begreifen, worum es hier ging: Ihn nicht blosszustellen. Ihn als Erwachsenen nicht wie einen Schwächling zu sehen. Denn er war für seine Nichte verantwortlich, nicht umgekehrt. Und dennoch musste das Kind mitansehen, wie er Anflüge von Schwäche hatte. Aber jeder Mensch konnte nun mal schwach sein, ob freiwillig oder unfreiwillig, wie Eric in diesem Moment. Auch wenn er es hasste. Aber er würde mit Sarah einmal darüber reden müssen. Warum und seit wann er diese Kopfschmerzen hatte. Wenn sie alt genug war. Denn sie würde sich nur irgendwie schuldig fühlen. Zwar wusste sie, dass Eric die Verbrecher gejagt hatte, die ihre Mutter auf dem Gewissen hatten ... aber sie wusste nicht wirklich was damals wirklich geschehen war. Oder wusste sie überhaupt, dass Eric die Verbrecher ihrer Mutter gejagt hatte? Er wusste es in diesem Moment nicht einmal. Er hatte Sarah so wenig wie möglich über den Tod ihrer Mutter gesagt, wollte ihr aber auch nichts vorschwindeln. Ach, es war schon kompliziert. Und Eric, der sicher einst ein guter Sheriff war, machte sie Gedanken, ob er ein guter Erzieher war.
Aber in diesem Moment war ihm selbst das etwas egal. Er war zwar wirklich kein Egoist, aber wenn er Sarah beruhigen und helfen wollte, so musste er sich nun einfach zusammennehmen.
Daher war er dann auch sehr dankbar, als Sarah von sich aus meinte, dass sie in ihr Zimemr gehen wolle, um sich ausgeh fertig zu machen. Noch die Hand an die Stuhllehne gekrallt und sich abstützend, drehte er halb seinen Kopf in Richtung seines Mündels. »Ja, tu das bitte, Sarah.« Er hatte ihre dünne, und verschüchterte Stimme vernommen und dies gab ihm den Ausschlag, sie einfach erst einmal fort zu schicken. Er musste sich sammeln. Vielleicht noch eine Pille nehmen?
»Ich hole dich dann gleich ab, Sarah ... und ...« Er brauchte einen Moment, bevor er fortfuhr: »Mach dir keine Sorgen, mein Schatz. Es wird alles gut. Ängstige dich bitte nicht. Ich werde gleich bei dir sein ... und dann gehen wir in die Kirche und beten zu Gott und sprechen mit Deiner Mama ...«
Und dann setzte er sich erst einmal wieder, um festen Halt zubekommen und damit die kleinen vor seinen Augen flimmernden Sternchen verschwanden. Und es tat gut. Er drehte seinen Kopf in Richtung Sarah und versuchte ihr ein beruhigendes Lächeln zu schenken, eines was zeigen sollte: Ja, habe keine Sorge, alles wird gut.
Einen kurzen Moment zögerte Sarah noch, bevor sie sich zum Gehen wandte. Es war offensichtlich, daß ihr Gefühl sie nicht getrogen hatte: Onkel Eric wollte nicht, daß sie etwas tat, um ihm zu helfen. Das hätte ihn bloßgestellt – ein erwachsener Mann, der von einem kleinen Mädchen Hilfe erhielt! Trotzdem tat es einem Teil von ihr leid, nichts tun zu dürfen. Nicht daß sie gewußt hätte, wie sie ihm hätte beistehen können, außer vielleicht, indem sie Hilfe herbeirief. Doch war da nicht ganz grundlos eine starke Neigung in ihr, Josephine, ihre Puppe, in ihren kindlichen Spielen mit Liebe und Zuneigung zu überschütten. Es war wie eine Art von Kompensation dafür, daß ihr selbst die mütterliche Zuwendung so sehr fehlte. Selbst für jemanden zu sorgen, war zwar kein vollständiger Ersatz, zumal sie in ihrem Innersten sehr gut wußte, daß sie noch nicht alt genug war, wirklichen Trost und Halt zu bieten, benötigte sie beides doch noch viel zu sehr selbst. Doch es gab ihr ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit, von Zusammengehörigkeit. Und während sie ihren Vormund musterte, der so leidend wirkte, begann sie sich zu fragen, ob es nicht viel schöner wäre, für ein lebendes Wesen dazusein, das einem mit einem Lächeln oder einer Berührung danken konnte...
Doch natürlich würde er ihre Hilfe nicht annehmen, nicht solange er nicht völlig verzweifelt war. Denn Onkel Eric hatte es sich offenbar fest vorgenommen, für sein Mündel zu sorgen, nicht umgekehrt. Und er sie mußte seine Entscheidungen akzeptieren und ihm gehorchen, weil sie nun einmal noch nicht erwachsen war und er das Sagen hatte. So löste sie sich schweren Herzens von der Vorstellung, ihm ihre Dankbarkeit einmal richtig beweisen zu können, und tapste leise zu der Tür, die in ihr Kinderzimmer führte. Dort angekommen ließ sie sich Zeit. Sarah wußte, daß es Onkel Eric sicherlich nicht unrecht war, wenn er ein paar Momente mehr hatte, um sich wieder zu erholen. So beschloß sie, Josephine entgegen ihrem ursprünglichen Plan doch in die Kirche mitzunehmen. Die Puppe würde ihr den zusätzlichen moralischen Halt geben, den sie jetzt besonders dringend brauchte. Und sie gab ihr die Gelegenheit, sich länger in ihrem Zimmer aufzuhalten, als es ansonsten notwendig gewesen wäre. Denn Josephine mußte natürlich, wie auch ihre Besitzerin, erst sonntagsfein gemacht werden.
So tauschte sie das einfache Alltagskleid der Puppe gegen das Sonntagskleid aus, das ihrem eigenen so ähnlich sah. Sorgfältig frisierte sie die Puppe, bürstete deren Zöpfe und flocht sie neu. Das künstliche Haar der Puppe begann sich dank dieser ihrer Fürsorge bereits zu lichten. Nachdem sie Josephine die Haube aufgesetzt und auch ihre eigene mit einer ordentlichen Schleife unter dem Kinn festgebunden hatte, sahen Mädchen und Puppe beinahe wie unterschiedlich große Zwillingsschwestern aus. Lediglich Sarahs Wintermantel, ihr Schal und die warmen Wollfäustlinge unterschieden die Kleidung der beiden, als sich Erics Mündel für den Gang durch die eisigen Gassen bereit gemacht hatte. Schließlich nahm sie Josephine auf den Arm und ging langsam wieder zur Tür, ihre freie Hand vorsichtig am Türknauf. Die flachen Absätze ihrer kleinen Spangenschuhe machten seltsame, knarrende Geräusche auf den Bodendielen. Von Onkel Eric hörte sie jedoch nichts. Sie zog am Türknauf. Unter dem Schirm ihrer Haube hervor lugte sie dann durch den kleinen Spalt in den Raum. "Onkel Eric..? Ich bin jetzt fertig."
Ein wenig tat ihm seine Nichte schon leid. Aber im Moment war Eric zu sehr mit seinem eigenen kleinen Leiden beschäftigt, dass er nichts so wahrnahm, wie sonst. Er war ja sehr empfänglich für manchmal kleinste Mimikveränderungen bei Menschen, auch wenn er sie nicht kannte. Das hatte sein Beruf einfach so mit sich gebracht, andere Menschen zu beobachten und zu versuchen, ihre Art und Stimmung zu deuten. Vielleicht fiel es ihm manchmal aber bei Sarah auch schwer, weil er sie auf der einen Seite schon als Baby kannte, und nun ihr Mündel war und er schliesslich kein Sheriff war und sie kein Zeuge, oder sonst was. Es war schon seltsam. Aber so war das nun und so sehr Eric unbewusst vielleicht auch manchmal perfekt sein wollte, im Leben gab es immer und immer wieder Momente, wo nicht immer alles glatt lief. Das Sarah ihm helfen wollte, war ihm schon bewusst. Auch wenn er nicht mal erahnte, was wirklich in ihr vorging, denn er war da auch nur ein ganz normaler Mensch.
Und natürlich wollte er Sarah gegenüber nicht schwach sein. Er wollte ihr ein Vorbild sein, ihr das Gefühl geben, dass sie nicht alleine war und jemanden hatte, der sie beschützte, egal, was da käme. Das es auch mal einem Erwachsenen nicht gut ging, war natürlich normal. Würde Eric nun mit hohen Fieber und einer Erkältung im Bett liegen, würde er es rührend finden, wenn Sarah ihm einen heissen Tee an das Bett brachte. Aber diese Migräne war einfach etwas anderes. Sie kam und ging, wann sie wollte und ohne Erklärung. Wenn man sich erkältete, hatte man sich halt irgendwie einen Virus eingefangen, weil man sich zu kalt angezogen hatte oder sonst was. Aber diese Kopfschmerzen, diese kurze Schwäche ... wie sollte er es dem Mädchen erklären`
Außerdem hasste er es, wenn er nicht die Kontrolle über sich hatte. Wenn der Körper ihn dermaßen beeinträchtigte, dass er kurzfristig glaubte, auch sein Geist leidet darunter. Und dem war eben irgendwie so. Er reagierte einfach nicht so, als würde er vollkommen gesund sein.
Also war er froh, dass Sarah sich auf ihr Zimmer begeben hatte und auch nicht in Panik ausgebrochen war. Er wusste und ahnte ja ein wenig von ihren Ängsten, dass sie niemanden ausser ihm hatte und er wollte sie nicht enttäuschen. Aber es gab eben auch Momente, wo man enttäuschen musste.
Wie auch immer. Eric hatte noch eine Pille geschluckt und sich dann, um seinen Kreislauf zurückzuerlangen, sich einfach in den Sessel fallen lassen. Am liebsten hätte er sich ins Bett gelegt, aber so etwas kam für Eric nicht in Frage. Sein Pflichtgefühl war da stärker. Die Kirche war wichtig und er durfte gar nicht anfangen, sich gehen zu lassen.
Und so saß er einfach nur im Sessel, rieb sich die Schläfen und konzentrierte sich darauf, dass es ihm hoffentlich gleich besser gehen würde. Innerlich sprach er seinen Körper förmlich an: Reiss dich zusammen. Nur eine kurze Schwäche, mehr nicht. Und es half. Es ging Eric ganz langsam besser, aber eben auch, weil er sich zusammen riss. Weil er sich der Schwäche nicht auslieferte, sich ihr nicht leidend hinab. Er hatte die Augen geschlossen, atmete langsam und gleichmässig und genoss für den Moment, alleine zu sein. Der Augenblick dauerte an, aber irgendwie fast zu kurz, denn auf einmal hörte er, wie sich die Zimmertür von Sarah öffnete und er vernahm ihre Stimme. Da er mit dem Rücken zu ihr saß, erblickte er sie nicht sofort. Aber er hob sich schliesslich und drehte sich zu ihr um und schenkte ihr ein wirklich freundliches, fast entspanntes Lächeln.
»Gut Sarah, mir geht es auch wirklich besser. Es war nur ein Moment ... keine Sorge.« So zu tun, als wäre gar nichts, hätte er auch albern gefunden, schliesslich hatte Sarah Augen im Kopf. Eric merkte dann auch, als er aufgestanden war, dass er keine Sternchen mehr sah. Die Kopfschmerzen liessen zwar noch nicht nach, denn so schnell wirkte wohl keine Pille, aber er war sich nun seiner Schwäche bewusst, hatte sie bekämpft.
Er ging dann zum Kleiderständer und zog sich seinen warmen Wintermantel an, der ihm bis zu den Knien reichte. Sarah hingegen hatte sich schon selbstständig wie sie nun mal war, schon selber alles angezogen. Also hockte sich der ehemalige Sheriff einfch vor seine Nichte und schaute genau darauf, dass ihre Jacke richtig zugeknöpft war, der Schal richtig saß, damit sie auch nicht fror oder sich gar erkältete.
Sarahs Puppe hatte er dann auch sofort erkannt und lächelte leicht. »Oh, wir werden heute zu dritt in die Kirche gehen, na, dann mal auf. Bereit?« Er lächelte Sarah an. Ein wenig blass war er noch aber sein Lächeln wie auch seine Worte zeigten deutlich, dass es ihm wirklich soweit gut ging, dass er sich nicht verstellte.
»Was hälst du davon, wenn wir nach der Kirche einen gaaanz großen Schneemann bauen?« Er wollte Sarah einfach ein wenig aufmuntern. Und dann sah er Sarahs Gesicht. Sie hatte viele Züge ihrer Mutter, der Schwester von Eric und auch wenn Eric kein besonderer Romaniker oder so war, auf einmal musste er an seine geliebte Schwester denken. Es kam auf einmal einfach über ihn. Eric war sonst niemand, der spontan einfach mal so Gefühle zeigte. Aber dann hockte er sich schliesslich vor seine Nichte und nahm sie spontan in den Arm. »Ach Sarah, ich habe dich so lieb ...« Er brauchte das und wollte auch, dass Sarah spürte, dass er es ernst meinte. Es war vielleicht egoistisch von ihm, auch wenn es ihm nicht bewusst war. Aber er liebte Sarah ja wirklich sehr. Denn nicht nur Sarah hatte nur noch ihren Onkel, auch Eric hatte nur noch Sarah und seine Erinnerungen an seine Schwester, die er immer geliebt hatte. Natürlich hatte Eric auch noch Terry, der hier lebte und diese tiefe Freundschaft war ihm auch unendlich wichtig. Aber Sarah war sein Fleisch und Blut.
Eine Welle der Erleichterung erfaßte das Mädchen, da sich Onkel Eric offenbar wieder besser fühlte. So ganz wollte sie es zunächst nicht glauben, daß sich der böse Dämon so schnell wieder verflüchtigt haben sollte, wie er gekommen war. Rasch öffnete sie daher die Tür ganz und lief zu ihrem Vormund, ihre Puppe fest an sich gedrückt. Doch als sie schließlich vor ihm stand und seine Miene mit ängstlicher Besorgnis musterte, erkannte sie die entspannten Züge, und so löste sich auch ihre Anspannung zusehends. Ihr kleines Gesicht verzog sich zu einem vorsichtigen Lächeln, so daß sie nun tatsächlich Josephines Porzellanantlitz ähnelte, das unter der kleineren Ausführung ihrer Sonntagshaube hervorstrahlte. Auf dem Fuß folgte Sarah dem Erwachsenen, während er seine Wintersachen anlegte. Und gewohnt artig hielt sie ruhig, um ihn den Sitz ihrer eigenen warmen Kleider prüfen zu lassen. Doch er fand nichts daran auszusetzen. Schließlich hatte sie sich mit besonderer Sorgfalt fein gemacht, hatte er ihr doch die Erlaubnis gegeben, ihr blaues Lieblingskleid zu tragen. Mit der Puppe im identischen Kleid auf ihrem Arm wirkte sie in der Tat, als erwartete sie heute noch gemalt zu werden.
Eifrig nickte sie auf Erics Bemerkung. Ein wenig schämte sie sich zwar, wenn sie daran dachte, daß andere Kinder sie vielleicht hänseln würden, weil sie in ihrem Alter noch eine Puppe in die Kirche mitnahm. Doch nach dem Anfall ihres Onkels brauchte sie Josephine einfach, um sich an ihr festzuhalten. Ein kleines Lächeln zog über ihr Gesicht, als er sie fragte, ob sie zusammen einen Schneemann bauen sollten, nach dem Gottesdienst. Wenn Onkel Eric einmal Zeit für sie hatte, spielte sie gern mit ihm. Bei ihm wußte sie, daß er sie nicht ärgern oder ihr gemeine Streiche spielen würde, wie es viele Kinder taten. Und einen Schneemann bauen machte ja schon Spaß. Oder eine Schneefrau? Sie fragte sich mit geschürzten Lippen, wie man wohl eine Schneefrau baute... ein Schneemann brauchte natürlich auch eine Schneefrau, das war ja logisch. Doch dann legte sie den Gedanken einstweilen beiseite und nickte nochmals mit einem "Mhm." Sie würde es sich nicht entgehen lassen, wenn Onkel Eric Zeit nur für sie aufwenden würde. Er hatte ja, wie alle Erwachsenen, nur wenig davon.
Um so teurer waren ihr die Gelegenheiten, in denen er sich auf eine kindliche Spielerei mit ihr einließ. Leider konnte man mit ihm nicht Sarahs Lieblingsspiel Vater, Mutter, Kind spielen, obwohl die Rollen mit ihm, Sarah und Josephine eigentlich perfekt besetzt gewesen wären. Aber Jungs mochten dieses Spiel nicht, und Onkel Eric... nun, man konnte es einfach nicht mit jemandem spielen, dem man erst lange hätte erklären müssen, was er dabei zu tun hatte. Genaugenommen wäre das auch nicht sonderlich viel gewesen. Der Vater hatte die bequemste, wenn auch am häufigsten unbesetzt bleibende Rolle. Jungs waren eben alle doof, und Onkel Eric war irgendwann auch mal einer gewesen. Dafür konnte er ja nichts. Beinahe hätte sie gekichert, als ihr das durch den Kopf ging. Ganz plötzlich wurden ihre Gedanken jedoch unterbrochen, als Eric sie unvermittelt in den Arm nahm und an sich drückte. Zunächst war sie vor Überraschung stumm, doch dann versuchte sie seine Umarmung zu erwidern, so gut sie das mit ihren kurzen Armen und ohne Josephine zu verlieren konnte. "Ich hab dich auch lieb, Onkel Eric!" Das hatte sie wirklich, und sie war froh, daß er bei ihr war.
Eric musste sich eingestehen, dass er vielleicht momentan nicht so aufmerksam war für seine Nichte, wie er es sich vorgenommen hatte. Und er dachte wirklich sehr oft an ihr Wohl oder versuchte zu schauen, was sie wollte, was ihr gut tat. Natürlich war er der Erwachsene und musste schliesslich entscheiden und vielleicht wäre es ihm alles auch leichter gefallen, wenn Sarah seine Tochter war. Aber er hatte nun mal keine Kinder, keine Frau, eben keine Familie und versuchte dennoch daraus das Beste zu machen. Er mochte überbesorgt sein. Und dennoch hatte er eben auch mit sich selber zu tun, so dass er nicht immer auf Sarahs Bedürfnissen hatte eingehen können. (und ja mir ist schon bewusst, dass ich laut einigen hier meine Figuren vielleicht etwas zu "modern" schreibe, aber so ist das nun mal. Jedem das seine. Ich bemühe mich dennoch darum, möglichst den sehr sehr hohen Ansprüchen hier zu genügen.)
Alles was Eric nach seinem Schwächeanfall wahrnahm, war, dass sich Sarahs Gesichtszüge entspannten, warum auch imemr. Hatte sie sich Sorgen um ihn gemacht? Vielleicht, wie auch immer, aber er wollte das nun nicht ansprechen. Denn es gab trotz seiner vielleicht modernen Denkweise eine Trennlinie: Sarah war ein Kind und er der Erwachsene. Und da er dann doch heute ein wenig zu sehr an sich dachte, bemerkte er dann auch einige Details in Sarahs Mimik nicht, die er sonst vielleicht gesehen hätte.
Für Eric war es nun einfach mal nicht einfach, dass er nun seit Monaten die Verantwortung für ein Kind hatte, aber er hatte diese Verantwortung übernommen, denn es war für ihn selbstverständlich. Das Kind hatte niemanden und Eric liebte seine Nichte. Zwar nahm er sie wahr, auch ihr eifriges Nicken, aber heute war er momentan nicht in der Lage, vielleicht zwischen den Zeilen zu lesen.
Und zum Schluss war eh nur eines wichtig: Sie beide hatten sich lieb. Eric konnte schliesslich nicht Sarahs Gedanken lesen. Und auch wenn sie nicht übermässig zeigte, dass sie gerne einen Schneemann bauen wollte, versuchte Eric ihr "Mhmh" zu deuten, doch immer noch hatte er leichte Kopfschmerzen und wollte einfach schauen, was denn nach der Kirche war.
Wichtig war ihm aber, das was dann kam: Eric war es, der seine Nichte in den Arm genommen hatte und ihr gesagt, dass er sie lieb hatte. Und auch wenn sie vielleicht erst verwirrt war, so hatte sie seine Umarmung erwidert und dann auch aufrichtig gemeint, das auch sie ihn lieb hatte. Das freute Eric sehr. Denn er liebte Sarah wirklich, auch wenn er nicht über seine Ängste mit ihr reden konnte. Und Sarah ihm vielleicht auch einiges vorenthielt. Aber für Eric war es wichtig, Sarah zu zeigen, dass er sie liebte und für sie da war. Er erwartete nicht, dass es umgekehrt auch so war. Er erwartete eh nur wenig von Sarah. Und in diesem Moment wusste er nicht mal was. Er war es doch nicht gewohnt, ein Kind zu haben, auch wenn es nicht seines war.
Eric drückte Sarah dann einfach nur und meinte leise aber ehrlich: »Danke ...« Denn er fand, dass es für Sarah wichtig sein konnte, dass sie wusste, dass er wusste, was sie meinte.
Und dann stand er auf, reichte ihr seine Hand. »Dann lass uns in die Kirche gehen und Deiner lieben Mutter gedenken ...-
(ooc: Kannst gerne den nächsten Post auf der Strasse machen, sorry.)
Schnellen Schrittes war Eric mit Sarah die Stufen in den ersten Stock ihrers neuen Zu Hauses gegangen, denn er wollte das Kind nicht weiter frieren lassen. Und da er ihr nun ja auch noch seine Jacke gegeben hatte, merkte er auch sehr bald, wie die Kälte an ihm hochkroch. Zum Glück war es noch warm in der Wohnung, denn auch wenn das Feuer im Ofen bald runtergebrannt war von heute morgen, war noch eine angenehme Restwärme zu spüren. Im Inneren angekommen, nahm er Sarah seinen Gehrock von den Schultern, hockte sich vor sie und sagte mild: »Nun zieh dich schnell um. Neue Strumpfhose und ein hübsches Kleid, ja? Also zieh alles aus, was nass ist. Ja? Damit du dich nicht erkältest. Und du bist ja schon gross.« Eric grinste leicht. Ja, das war sie. Er wusste, dass das Sarah alleine konnte und war auch froh darüber. Die Zeiten waren Sittenhaft und Eric merkte, dass wirklich eine Frau im Haus fehlte. Oder eben auch nicht, denn Sarah war nun wirklich alt genug. »Ich mach uns währenddessen noch schnell einen heissen Tee zum Aufwärmen. Aber dann möchte ich Terry auch nicht warten lassen, das ist ein wichtiges Treffen für ihn, verstehst du, mein Engel?« Und weil er irgendwie spürte, was Sarah für ein schlechtes Gewissen hatte, fügte er noch hinzu: »Was passiert ist, ist einfach passiert und ich weiss, dass du es nicht böse gemeint hast. Es ist halt passiert und dein Kleid lässt sich wieder nähen, ok? Also, mach dir nicht zu viele Gedanken. Wir reden ein andermal in Ruhe darüber, ja?« Er lächelte Sarah an.
Kleinlaut und bibbernd war Sarah nach dem eiligen Abschied von Miss Tucker ihrem Onkel gefolgt. Ihre feuchten Kleider ließen sie nun doch zunehmend frösteln. Sie mochte ein Kind sein, dem die Natur einen wachen Verstand mitgegeben hatte, doch war sie weder ausgesprochen kräftig, noch robust. Im Gegenteil, sie konnte sich an allzu viele Gelegenheiten erinnern, bei denen sie mit einer starken Erkältung das Bett hatte hüten müssen, und sie begann zu fürchten, eine ebensolche sei im Anzug – eine nicht ganz ungerechte Strafe vielleicht für ihr Verhalten, aber trotzdem eine, die sie mit großem Unbehagen erfüllte. Jetzt jedenfalls war sie heilfroh, endlich in das wärmere Innere des Hauses zu kommen. Und während die schneidende Kälte sie draußen fast gelähmt hatte, fingen hier drinnen nun ihre Zähne an zu klappern. Es kostete sie wahrhaftig keinen großen Gehorsam, Onkel Erics Worten augenblicklich folge zu leisten. Sie nickte und beeilte sich, in ihr Zimmer zu kommen. Dort nahm sie die Haube vom Kopf und setzte Josephine auf ihre angestammte Ecke des Betts, dann zog sie schnell die feuchten Strümpfe und das Kleid aus. Mißmutig begutachtete sie den Riß darin. Sarah zog einen Schmollmund. Hoffentlich ließ er sich wieder nähen. Dies war ihr Lieblingskleid, das schönste, das sie hatte! In entsprechend gedrückter Stimmung machte sie sich daran, neue Kleider auszusuchen.
Dabei beeilte sie sich, denn Onkel Eric hatte ja gesagt, er wolle Onkel Terry nicht so lange warten lassen. Und anziehen konnte sie sich schon seit langem selbst, wie sie auch viele andere Kleinigkeiten im Haushalt beherrschte, worauf sie nicht wenig stolz war. Sie holte rasch ein neues Paar langer Wollstrümpfe aus der Schublade ihrer kleinen Kommode. Nachdem sie diese an den Strumpfhaltern ihres Leibchens befestigt hatte – gar keine so leichte Aufgabe für Kinderhände – zog sie sich das schönste ihrer verbliebenen Kleider über den Kopf und schlüpfte danach mit den Armen durch die Träger einer blütenweißen Kinderschürze, die ihrem Äußeren dann doch noch einen recht sonntäglichen Anstrich verlieh. Die feuchten Strümpfe legte sie sorgfältig über eine Stuhllehne, das beschädigte Kleid kam ebenso behutsam geglättet auf ihre Bettdecke. Wie sie es von Mama gelernt hatte. Schließlich nahm sie Josephine und ihre Haube wieder auf und eilte zurück zu Eric. "Ich bin fertig, Onkel Eric!" rief sie atemlos. Die Kälte war inzwischen aus ihrem Körper gewichen. Sie fühlte sich sogar warm, angenehm warm! Ihre Wangen waren leicht gerötet, vergessen fürs Erste ihr schlechtes Gewissen.
Rascher als Eric erwartet hatte, war Sarah mit dem Umziehen fertig. Sie war schon alt genug, dies alleine zu tun und auch wenn Eric relativ weltoffen aufgewachsen war in New York, hatte er so seine Probleme damit, seine Nichte in Unterwäsche zu sehen, weshalb er sehr froh war, dass sie sich alleine umziehen konnte hinter verschlossener Tür. Dennoch war ihm auch klar, dass er irgendwie eine weibliche Haushaltshilfe brauchen würde. Aber das waren alles Fragen, die man auch später noch klären konnte. Und Selina war hier die Schmiedin, die hätte sicherlich keine Zeit dafür und wirkte auch so gar nicht, wie eine Haushälterin. Doch als er kurz an sie dachte, leuchteten seine Augen leicht versonnen. Er hoffte, dass er sie gleich auf dem Empfang wieder sehen würde. Aber er wollte nun auch nichts überstürzen. Seine Sorge um Sarahs Gesundheit wog weit mehr.
Also hatte er das Feuer geschürt, Wasser für den Tee gekocht und den Tee aufgesetzt. Und da kam auch schon Sarah angeeilit, fast etwas atemlos. Der Tee war noch keine Minute gezogen, doch Eric lächelte seine Nichte an. Auch in diesem Kleid sah sie hübsch aus. »Fein, Sarah. Dann trinken wir gleich noch schnell einen Tee, ja? Nicht, dass du noch krank wirst.«
Er stellte die Kanne mit dem noch ziehenden Kamillen Tee auf den Esstisch, holte Honig und zwei Tassen und deutete Sarah dann an, Platz zunehmen, wie auch er es tat. »Sag einmal Sarah, magst du mir das erklären, was das mit dem Kaninchen auf sich hat? Selina scheint es zu wissen und ich ahne es ja auch. Was war denn da nun los?« Es interessierte Eric einfach und seine Frage klang nicht vorwurfsvoll, eher neugierig. So kannte er Sarah einfach nicht und er wollte es wissen. Besonders, ob sie mit ihm darüber überhaupt sprechen wollte. Hier waren sie ja unter sich und er hoffte, dass sie nicht zu schüchtern war. Das er ihr nicht böse war, hatte er ja nun deutlich gezeigt.
Wie man es von ihr nicht anders gewohnt war, setzte sich Sarah brav an den Tisch, um auf ihre Tasse Tee zu warten. Doch war sie für ihre Verhältnisse ungewöhnlich zappelig und unruhig. Ihre Wangen hatten eine deutliche rote Färbung, die kurzen Beine ließ sie unter dem Tisch in der Luft baumeln. Sie schien lebhafter als sonst. Beinahe ungeduldig sah sie immer wieder zu der Kanne, in der Onkel Eric den Tee kochte. Erst auf seine Frage hin setzte sie sich ein wenig gerader hin und schürzte die Lippen nachdenklich. Wie sollte sie ihm erklären, wer Mr. Kaninchen war und was es mit ihm auf sich hatte? Sie wußte es ja selbst noch gar nicht so genau. Trotzdem beschloß sie ihren Vormund ins Vertrauen zu ziehen, auch wenn er ein Erwachsener war und Erwachsene meist nur ein Kopfschütteln für ihre Geschichten übrig hatten. "Das ist Mr. Kaninchen. Er ist groß und weiß und hat eine Taschenuhr." Sie dachte nach, wie sie ihn weiter beschreiben könnte. "Sonst ist er immer in Eile, deswegen braucht er die Uhr, verstehst du? Weil wenn er zu spät kommt, wird die Königin böse. Aber heute hatte er es gar nicht eilig. Er hat mich eingeladen, ihn zu besuchen." Sie merkte gar nicht, wie zusammenhanglos ihre hervorgesprudelten Worte waren. Es war ihr nur wichtig, Eric so viel wie möglich von Mr. Kaninchen zu erzählen, damit er merkte, daß sie sich das alles nicht einfach nur ausgedacht hatte. Sie hatte Mr. Kaninchen ja wirklich gesehen!
Nun ja, oder zumindest gehört... aber sie hätte ihn bestimmt auch gesehen, wenn sie ihm in seinen Bau gefolgt wäre. "Mr. Kaninchen wohnt in einem Kaninchenbau, und hinter dem Bau liegt das Land, wo die Königin regiert, und da scheint immer die Sonne, deswegen wollte ich ihn so gern mal besuchen. Und ich wollte das Kleid wirklich nicht kaputtmachen, ehrlich! Mr. Kaninchen hat mich gerufen, aber er hat wohl nicht daran gedacht, wie eng es in seinem Bau ist, glaube ich. Er hat ja nur eine Weste an." Hin und wieder schielte sie zu der dampfenden Teekanne. Eigentlich mochte sie Kamillentee recht gern, vor allem mit Honig. Aber im Moment legte sie gar keinen so großen Wert darauf. Ihr war eigentlich schon so recht warm. Sarah hatte das Gefühl, wenn sie jetzt noch einmal im Schnee gekniet hätte, würde er unter ihr geschmolzen sein. Halb unterbewußt merkte sie auch, wie aufgekratzt sie war, zumindest wenn man ihr normales Verhalten zum Maßstab nahm. Denn daß sie sich im Moment wie ein normales, lebhaftes Kind benahm, war bei ihr eben schon nicht mehr alltäglich. Trotzdem bemühte sie sich weiter, Onkel Eric zu erklären, worum es ging. Sie streckte ihre kurzen Ärmchen so weit sie konnte. "Sooo groß ist er. Und er hat weißes Fell. Und ganz, ganz lange Ohren! So!" Sie reckte sich und zeigte auf zwei Punkte irgendwo über ihrem Kopf.
Kaum das Eric seine Nichte aufgefordert hatte, setze diese sich an den Tisch und wartete darauf, dass Eric den Tee brachte. Als der Tee dann fertig war, füllte er ihre Tasse nur zur Hälfte oder sogar noch weniger, damit Sarah nicht aus Versehen etwas verschüttete und so den Tee schneller würde trinken können, als wenn die Tasse bis zum Rand gefüllt war. Und sie war auch gerade ein wenig zappeliger als sonst, was Eric ein kleines Schmunzeln entlockte. Hatte er sie doch gerade gefragt, was denn das nun mit dem Kaninchen auf sich hatte, womit er sich quasi ein wenig auf die Ebene von Sarahs Phantasie begab. Und nun wurde sie auch sichtlich ruhiger. Eric hatte auch sich eine Tasse gefüllt und hatte Sarah den kleinen Topf Honig samt Löffel in die Nähe geschoben, nachdem er sich selber auch seinen Tee mit etwas samtigen Honig gewürzt hatte und schaute sie aufmerksam an, während er seine Tasse wärmend in seinen Händen hielt, dann aber auch immer wieder absetzte, da es noch zu heiss war, die Tasse nicht am Henkel anzufassen.
Und Sarah erzählte. Frei heraus. Und Eric hörte zu und zwischendrin, wenn Sarah fragte, ob Eric auch verstand, nickte dieser wohlwissend. Das alles ein wenig zusammenhanglos war, störte ihn nicht. Denn er freute sich, dass Sarah ihn teilhaben liess an ihrer kindlichen Phantasie. Außerdem ahnte er inzwischen, dass es sich wohl um dieses Kinderbuch von Lewis Carroll handeln musste. Er erinnerte sich, weil dies eines von Sarahs Lieblingsbüchern war, schon zu Zeiten, als ihre Mutter noch lebte. Leider hatte er das Buch selber nie gelesen und konnte somit nicht fachsimpeln mit Sarah, aber so war es auch ok. Und sie sprach weiter, lebhaft und vollkommen wie er es von einem Kind erwartete. Und als sie dann zeigte, wie lang denn die Ohren von Mr. Kaninchen seien, lachte Eric, wie er es oft tat: Nicht herzhaft, sondern eher milde, aber er nickte mit seinem Kopf. Und er überlegte kurz, wie er reagieren sollte. Er war sich aber sicher, dass er Sarah das Gefühl geben wollte, dass es richtig war, ihn einzuweihen und ihm davon zu erzählen. »So, so, also hat dich Mr. Kanichen eingeladen. Das ist aber wirklich freundlich von ihm. Aber warum wird denn die Königen böse, wenn er zu spät kommt?« fragte Eric sehr verständnisvoll und begab sich erneut ganz auf die Ebene von Sarah.
Natürlich drängte es ihn auch zum Empfang von Terry, aber dies war ihm gerade auch wichtig und ausserdem sollte Sarah noch etwas warmen Tee zu sich nehmen und er wollte ihr zeigen, dass er mehr Verständnis für ihre kindlichen Vorstellungen hatte, als sie vielleicht bisher annahm, denn das empfand er wichtig für ein Zusammenleben.
Erics Frage brachte Sarah nicht sonderlich aus dem Konzept. Sie hatte sich zwar noch keine Gedanken darüber gemacht, was wohl die Beweggründe der Königin waren, aber sie besaß eine sehr genaue Vorstellung davon, wer eine Königin war und was sie so den ganzen Tag machte, und dazu ein reichliches Maß an Phantasie. Damit hatte sie alle Zutaten beisammen, um ihrem Vormund nach einem kurzen nachdenklichen Schweigen eine Antwort zu präsentieren, die sie selbst vollständig zufriedenstellte. "Königinnen sind halt so. Jedermann muß sich beeilen, wenn sie was wollen. Nur die Königin selbst darf zu spät kommen. Bei allen anderen wird sie böse, weil sie eben eine Königin ist, der man gehorchen muß." Absolut einleuchtend, wie ihr schien. Daher nickte sie auch weise, als sie Onkel Eric die Sache erklärte. Eine Königin war, in Sarahs Worten gesprochen, ein bißchen wie ein Lehrer. Wer nicht anwesend war, wenn die Schulglocke läutete, mußte mit Strafe rechnen – die Jungs mit Hieben, die Mädchen zumindest auch mit einer sehr bösen Strafpredigt und natürlich Strafarbeiten. Nur daß eine Königin das nicht nur bei Kindern so machen durfte, sondern bei allen. Ihr kam der Gedanke, man sollte ernsthaft in Erwägung ziehen, später einmal Königin zu werden. Denn was Mama verschiedentlich über das Leben und die Möglichkeiten einer erwachsenen Frau gesagt hatte, schien dem Mädchen recht wenig verheißungsvoll.
Von Knechtschaft hatte Mama immer gesprochen, von Sklaverei im Dienste der Männer und davon, daß Frauen oftmals Freiwild seien – den Teil hatte sie nicht ganz verstanden, aber ihr feines Gespür hatte Mamas Tonfall bei diesen Worten als sehr abfällig erkannt. Kurz kam ihr der Gedanke, warum Mama eigentlich nie auf die Idee gekommen war, selbst Königin zu werden. Das schien doch im Vergleich zu all dem, was einem Mädchen sonst blieb, recht verlockend. Und sie hatte Sarah doch selbst noch die Geschichte von Alice vorgelesen! Man mußte ja schließlich keine so griesgrämige und gemeine Königin sein wie jene, der Alice begegnet war. Man konnte ja auch freundlich zu seinen Untertanen sein: Nächstes Mal kommen Sie bitte nicht wieder zu spät, Mr. Kaninchen. So oder so ähnlich klang das doch gleich viel netter! Die Vorstellung begann ihr zu gefallen. Vorsichtig nahm Sarah ein Schlückchen von dem kochend heißen Tee und sah ihren Onkel dann an. "Du, Onkel Eric? Muß man eigentlich gut in der Schule sein, wenn man Königin werden will?" Die Sorge war ihr plötzlich gekommen, schien aber nur logisch: Als Königin wurden bestimmt nur die klügsten Leute genommen. Dabei war sie gar nicht schlecht in der Schule, sondern sogar recht gut, vom Rechnen abgesehen, das sie nicht mochte.
Gespannt auf Sarahs Antwort, hatte sich Eric auf seinem Stuhl zurückgelehnt und betrachtete Sarah aufmerksam mit seinem typisch milden Lächeln. Er freute sich über diesen kleinen Ausflug in Sarahs Gedankenwelt und musste dann ein wenig schmunzeln, als sie zur Antwort gab, dass Königinnen so nun mal waren und es schien für sie vollkommen normal. Und eigentlich hatte sie teilweise sogar Recht. Aber eben eher entfernt. Aber Eric saß hier nicht mit Sarah, um ihr nun genau zu erklären, wie es denn in der Wirklichkeit aussah. Außerdem mochte es wirklich einige Staatsmänner oder Königinnen geben, bei denen es vielleicht ein wenig so ablief, wenn vielleicht auch eher im mässig. Aber was wusste Eric schon über all die Länder auf der Erde? Ihm kam allerdings sofort zwei Menschen in den Sinn. Der amtierende Präsident von Amerika und die englische Königin Victoria. Doch Eric liess seine Nichte aussprechen und als diese dann ihre Frage stellte, schmunzelte Eric etwas breiter, ohne das es so aussah, als würde er seine Nichte belächeln.
»Nun Sarah, Königin zu werden, ist wahrlich nicht einfach. Manche werden es wegen ihrer Abstammung. Und unser König, also der unseres Landes, nennt man Präsident. Aber er ist quasi das Oberhaupt unseres Landes. Er allerdings wird vom Volk gewählt.« erklärte Eric und fragte sich in diesem Augenblick, was Sarah wohl so in der Schule lernte. Ein wenig hatte er es ja schon in City of Kansas mitbekommen, weil er Sarah manchmal bei den Hausarbeiten half. »Es ist jedenfalls sehr von Nutzen, wenn du gut und fleissig in der Schule bist. Denn je mehr du lernst, je mehr weisst du, verstehst du? Jemand der Lesen und Schreiben kann ist eindeutig im Vorteil, als jemand, der es nicht beherrscht. In sofern: Ja, man sollte sehr gut sein in der Schule. Möchtest du denn einmal Königin werden?« fragte er dann einfach mal so ins Blaue. Er hatte so ein gespäch mit Sarah noch niemals geführt und es würde wohl darauf heraus laufen, sarah tatsächlich mal zu fragen, was sie später denn mal werden wolle. Das es auch heute noch schwer war für Frauen, war Eric bewusst. Aber es schien sich alles etwas zu lockern. Immerhin durften Frauen in diesem Bundesstaat wählen.
An ihrem Tee nippend hörte sie Eric zu. Einmal nur runzelte sie die Stirn. Ja, natürlich wußte sie, daß es den Präsidenten gab! Nur hatte sie sich noch nie gefragt, ob außer ihm auch noch ein König irgendwo regierte. Oder eben eine Königin. Weit weg, in England, da gab es Könige, so viel hatte sie bereits aufgeschnappt. Aber wie war das eigentlich mit Königen und Präsidenten? Welcher von beiden war höher, wer hatte wem zu befehlen? Und gab es eigentlich auch Frauen, die Präsident waren? Erstaunlich viele Fragen ergaben sich plötzlich, mit denen sich Sarah noch nie zuvor beschäftigt hatte. Ihr Interesse für Politik war allerdings auch sehr begrenzt. Genau genommen genügte es ihr, zu wissen, daß irgend jemand regierte. Mama hatte sowieso immer gesagt, alle wichtigen Ämter stünden nur Männern offen, egal was die Leute gegenteiliges sagten. Das, fiel dem Mädchen auf, könnte vielleicht auch die Erklärung sein, warum Mama niemals hatte Königin werden wollen: weil es ihr gar nicht klar gewesen war, daß das möglich war. Denn Königin konnte man als Frau ja schließlich werden. Sonderbar, wo Mama doch sonst in allem bescheid gewußt hatte und schrecklich klug gewesen war!
Sie ließ die Beine baumeln und wärmte sich die Hände an der Tasse, während Eric weiter über Könige und über die Schule sprach. Nachdenklich schürzte sie auf seine Frage hin die Lippen. "Ich weiß nicht. Königin sein ist glaub ich sehr schwer. Man muß bestimmt sehr viel wissen, um immer richtig zu entscheiden. Und wenn man was Falsches entscheidet, sind alle böse auf einen." Nein, der Gedanke gefiel ihr überhaupt nicht! Sie mochte es gar nicht, wenn jemand böse auf sie war. Und dann mußte man als Königin ja immer inmitten vieler Menschen auf einem Thron sitzen und zu allen sprechen. Nie war man für sich allein und konnte träumen und spielen und sich Geschichten ausdenken... der Beruf wurde ihr immer unsympathischer, je mehr sie darüber nachdachte. Sie starrte eine Weile lang auf ihre kleinen Hände, die vorsichtig die heiße Tasse umfaßt hielten. "Ich glaub, ich möchte keine Königin sein. Das ist sicher sehr schwer." Ihre Stimme klang nur leise, sie war kaum mehr als ein schüchternes Murmeln. Beinahe war ihr so, als würden gerade in diesem Moment ganz viele Leute um sie herum stehen und sie anstarren. Und alle warteten darauf, daß sie endlich Befehle aussprach und das Land regierte und Entscheidungen traf. Nein, nein, so etwas würde ihr gar nicht gefallen..!
Eric fiel auf, wie aufmerksam Sarah zuhörte, auch wenn sie einmal etwas ihre Stirn runzelte. Aber das war für ihn ein gutes Zeichen. Sie hörte zu und machte sich so ganz ihre eigenen Gedanken. Sie nippte am Tee und wärmte ihre Hände daran, weswegen Eric ja auch den tee aufgesetzt hatte, denn er wollte nicht, dass Sarah krank wurde. Und dann sprach sie schliesslich davon, dass sie nun doch lieber keine Königin werden wollte. Und sie erklärte, warum. Lag das nun an der Schule oder Erics Antwort oder hatte sie gerade einfach beschlossen, dass es zu anstrengend war? Aber Eric liess sie aussprechen, zeigte aber reges Interesse an dem, was seine Nichte von sich gab. Er selber nippte auch an seinem Tee und wärmte auch seine Hände an dem Becher. Draussen war es einfach wirklich furchtbar kalt.
Als Sarah dann geendet hatte, lachte Eric, aber eher scherzhaft und meinte dann mit einem fast schelmischen Grinsen: »Dann bin ich aber beruhigt, dass du keine Königin werden magst, denn ja, es ist wohl sehr anstrengend. Ich glaube, man kann dann wirklich nicht mehr ganz so sein, wie man vielleicht sein mag. Und ja, man muss wohl viel wissen und schwere Entscheidungen treffen. Du müsstest dann sehr viel Verantwortung tragen. Nicht, dass du das schon kannst. Aber für ein ganzes Volk? Denn eine gute Königin sollte es ja versuchen, ihrem Volk recht zu machen ...« Was redete er da? Er meinte es ernst. Aber war das wirklich eine Unterhaltung, die so weiter geführt werden musste? Nein. Denn Sarahs Stimme wurde auch immer leiser und er sah, wie sie auf ihre Hände starrte. Sie hatte so viel preisgegeben und doch spürte Eric, dass er seine Nichte noch längst nicht so gut kannte, wie er es sich wünschte. Und auch wenn er eigentlich zu Terrys Empfang wollte, war ihm das Gespräch mit seiner Nichte wichtig. Und so rückte er mit seinem Stuhl neben sie, ohne ihr zu nahe zu kommen und legte sanft einen Arm um ihre kleinen Schultern. Denn er hatte das Gefühl, dass sie auch sehr viel nachgedacht hatte. Worüber auch immer. Sicherlich hatte sie aber auch irgendwie an ihre Mama gedacht und diese würde er niemals ersetzen können. Und dann sprach er leise: »Ja, eine Königin zu sein, ist sicherlich schwer, mein Schatz. Ich möchte auch kein König sein. Das wäre mir auch zu schwer. Aber Sarah, kannst du dir sonst vorstellen, was du später vielleicht einmal werden möchtest?« Eric hoffte, dass Sarah diese Frage verstand, aber sie war ja alt genug. Aber vielleicht war diese Frage auch einfach noch zu früh. Aber es war eben Erics Art, seine Nichte mehr kennenzulernen.
»Oder hast du Wünsche für später? Wenn du mal erwachsen sein wirst?«
Oder überforderte er Sarah damit? Auf der einen Seite wollte er, dass sie ganz ein Kind war und nun kam der ehemalige Sheriff mit so einer Frage ... Aber fragten sich nicht alle Kinder mal, was sie werden wollten?