Matt u. Rebeccah am Portal zwischen den Leuten, Jake stösst dazu
Als Jake das Toilettenhäuschen wieder verließ, standen bereits zwei Leute und ein kleiner Junge Schlange. Man bedachte ihn mit einem ärgerlichen Blick, woraufhin er nur blöde grinsen konnte. So viel Zeit hatte er doch gar nicht dort drinnen gebraucht. Nur die Nachricht gelesen. Wirklich, manche Leute hatten überhaupt keine Geduld. Da er Elisa bald sehen würde, war er schlicht immun gegen schlechte Laune und ließ sich auch nicht sonderlich anmerken, dass er sich über die Erwachsenen ärgerte. Er zuckte nur als Entschuldigung mit den Schultern und schlenderte zurück nach vorne, wo sich bereits die ganze Kirche ins Freie gedrängt hatte. Hin und wieder erblickte er einen Schulkameraden, ein paar bekannte, erwachsene Gesichter und suchte doch vergeblich nach Elisa. Wahrscheinlich war sie mit Cassidy schon gegangen? Oder war sie schon zur Hütte unterwegs? Noch war Zeit, wenn er die Kirchenuhr richtig verstand. Er würde wohl in der Nähe bleiben müssen, wenn er die Zeit nicht verpassen wollte, um aufzubrechen. Er besaß keine eigene und die Angst Elisa unnötig auf sich warten zu lassen war groß.
Für einen kurzen Moment glaubte er Elisa zwischen all den Menschen hindruch gesehen zu haben und drängte sich etwas rascher durch die Menge. Ein paar empörte Rufe erklangen, als er dem einen oder anderen nicht gar sanft auf den Fuß trat, aber für eine Entschuldigung hielt er sich nicht lange auf. Er wollte nur kurz einen Blick auf Elisa werfen, sehen wohin sie ging. Denn falls sie schon vor laufen wollte, würde er sie über einen geschlagenen Bogen einholen gehen, damit sie gemeinsam durch den Wald zur Hütte spazieren konnten. Ohne nach links oder rechts zu blicken lief Jake eilig am Portal vorbei und bemerkte gar nicht, dass er einem jungen Paar (Rebeccah und Matt), den Weg abschnitt. Er lief viel zu schnell und brachte sich durch einen ungeschickten Schritt auf eine Eisplatte aus dem Gleichgewicht. Glücklicherweise fing er sich gerade noch vor einem Sturz, rempelte dabei aber ein Mädchen an. Normalerweise hätte er sich entschuldigt, aber er befürchtete, dass Elisa entschwand, und daher sah er nicht einmal nach der Person, die er ebenfalls aus dem Gleichgewicht gebracht hatte....
Rebeccah lächelte zufrieden und sehr erfreut über das kleine Lob von Matt. Er hielt ihre Idee für klug. Das war ungewohnt. Nicht das Nicholas nicht ähnlich gedacht hätte, aber sie war seit Kindesbeinen an gewöhnt, dass ihre Rolle als Frau darin bestand ihrem zukünftigen Mann zu gehorchen und seine Vorschläge und Ratschläge zu beherzigen, ohne durch ihr dummes Weibergewäsch sie in Frage zu stellen. Inzwischen wusste sie, dass auch eine Frau, ein Mädchen, in der Lage war gescheite Gedanken zu spinnen, die sie im Leben voranbrachten. Dafür aber gelobt zu werden, war um einiges schönes. Sie traten den Weg an, um Mister Towätsch aufzusuchen, wobei sie im Gedränge vor der Kirche ein bisschen aufpassen mussten. Jeder wollte so rasch wie möglich wieder aus dem Schnee. Als Matt schneller ausschritt hatte Rebeccah Mühe ihm zu folgen, denn ihre Schritte waren kürzer und der Saum des Kleides hinderte stark. Matt schien dies zu bemerken, denn er sorgte dafür, dass sie nicht auf dem Schnee ausrutschte oder gar das Gleichgewicht verlor. Sie lächelte ihm dankbar zu und ließ es zu. "Das ist sehr nett von dir Matthew," sagte sie scheu. "Danke", und hielt sich einmal mehr als nötig fest an seinem Arm, auch wenn es gar keinen Grund dafür gab. Ihr Herz schlug dabei bis zu ihrem Hals hinauf und schien fast hervorhüpfen zu wollen, so aufgeregt war sie. Sie waren noch nicht weitgekommen, als plötzlich mit sehr groß ausgreifenden Schritten und zügigem Gang ein junger Mann ihren Weg tangierte. Er hatte sie wohl nicht gesehen, auch sie nahm ihn nur flüchtig wahr. Doch genau das war ihr kleines Verhängnis. Denn sie erschrak so sehr darüber, als er plötzlich vor ihnen stand, dass sie zurückwich, und den Halt ein wenig verlor. Sie kam ins Straucheln, und griff nach Matts Arm suchend ins Leer. Der junge Mann war selbst auf Eis ausgerutscht und stieß sie beim Auffangen seines Gleichgewichts unsanft an. Rebeccah stieß überrascht einen leisen Schrei aus und knickte beim Versuch im Schritt einen Ausgleich zu finden nach innen ein. Ein ungewohnt hässlicher Schmerz jagte durch ihr Gelenk und sie zog heftig die Luft kein, angelte erneut nach Matts Arm und bekam ihn glücklicherweise zu fassen. Dieses Mal war es eher ein Klammern, denn sie konnte den rechten Fuß kaum noch belasten. "Oh, ich glaube ich habe mir was verknackst," stöhnte sie leise, weil es ihr wichtig war, sich für ihr ungeschicktes Benehmen zu entschuldigen. Gleichzeitig sah sie mit Überraschung, wie der junge Mann sich nicht einmal nach ihr umsah, sondern einfach frech seinen Weg fortsetzte....
Die versammelten Einwohner von Camden Village schenkten der Mexikanerin wenig Beachtung. Nevada war froh darüber, dass der neue Reverend die Aufmerksamkeit auf sich zog. Trotz ihrer Anspannung entging der jungen Frau nicht, dass sich eine regelrechte Schlange gebildet hatte wenn es darum ging sich ins Gerede zu bringen und unbeliebt zu machen. Ihr neuer Boss brachte sich nicht nur mit dem Hurenhaus in Verruf, sondern schleppte diese Rote in das Gotteshaus. Die Tochter des Sheriffs saß neben einer Niggerin und ihre Kollegin Megan turtelte offen mit dem versoffenen Klavierspieler herum. In der Kirche selbst schien jede Ordnung aufgelöst und ungeachtet von Hautfarbe, Geschlecht, Religionszugehorigkeit und gesellschaftlicher Stellung saßen die Bürger scheinbar wahllos zusammen. Mit einer Mischung aus ungläubiger Empörung und neugieriger Erwartung setzte Nevada sich ganz nach hinten, dorthin, wo früher die Frauen der untersten Schichten ihren Platz gefunden hatten. Fosters Ermahnung noch im Ohr ließ sie sich nicht provozieren und ignorierte auch Cassiel und seine Familie. Auch wenn sie mit den Barclays hergekommen war wusste sie doch dass sie allein war. Den Blick auf niemand bestimmtes gerichtet versuchte Nevada sich einen Reim darauf zu machen was diese chaotischen Veränderungen bewirkt hatte. Mit einem Gottesdienst hatte das Treiben hier nur wenig zu tun und hier zwischen den Menschen fand die Katholikin auch nicht die Ruhe sich still ins Gebet zu versenken. Unwillkürlich huschte ihr Blick immer wieder über die Rücken der Versammelten und während der Predigt kreisten die Gedanken der Mexikanerin weniger um den Inhalt der Predigt, als um die Frage, wer was anhatte und was sie selbst sich bald würde leisten können. Besonders einträglich schien ihr die Anstellung im Bordell nicht, aber zumindest würde sie von ihren Arbeitgebern erwarten können ein wenig herausgeputzt zu werden. Bisher jedenfalls hatten die Beiden sich nicht lumpen lassen, wie die beiden neuen Kleider in ihrem Schrank bewiesen.
Hoffentlich bekomme ich gleich die Sachen. Hauptsache der irische Mistkerl hat den Barclay nicht doch auf dumme Fragen gebracht. Suchend drehte sie den Kopf, bis sie Graham zwischen den Menschen entdeckte. Sogleich hellten sich ihre Züge ein wenig auf, denn zwischen ihnen schien sich alles zum Besten zu entwickeln. Als der Gottesdienst dann endete blieb die junge Frau noch einen Moment sitzen. Die Kirche zu verlassen schien ihr einem Spießrutenlauf gleichzukommen und sie wollte lieber warten, bis die Kirche leerer geworden und die Leute sich verteilt hatten. Scheinbar noch ins Gebet versunken hielt sie den Kopf gesenkt, doch Nevada war keineswegs unaufmerksam. Mit wachsender Unruhe lausche sie den Schritten um sich herum und es hätte sie nicht gewundert, wenn ihr noch Ärger bevorstand. Rasch und möglichst unauffällig stand Sie schließlich auf und verließ das Gotteshaus, nachdem sie sich ein letztes Mal bekreuzigt hatte. Diese Gesten bedeuteten ihr wenig und kamen so automatisch, als würde sie sich die feuchten Hände an der Schürze abwischen. Als sie draußen stand hielt sie sofort nach dem Deputy Ausschau. Der Sternträger stand ein wenig abseits und da er allein war schien die Gelegenheit günstig. Beinahe freudig eilte sie auf den Burschen zu und wirkte erleichtert, als sie in seiner Nähe war. Die Gegenwart des Gesetzeshüters verhieß Sicherheit und es schien beinahe, als würde es ihr gelingen den Kirchgang ohne allzu drastische Anfeindungen und Zwischenfälle zu überstehen. Sie hörte seine spöttischen Worte und da sie sich dem Deputy von der Seite angenähert hatte glaubte sie, er müsse ihre Schritte gehört haben. „Auch so einer, der sich gern reden hört!“ Unsicher trat sie an Graham heran und senkte automatisch ihre Stimme. „Hier habe ich ohnehin keinen dem ich noch was zu sagen habe. Also wenn sie…. ich meine wenn sie hier noch….“ Mit einer vagen Geste deutete sie zu den Menschen auf dem Kirchplatz die sich in Grüppchen zusammengefunden hatten. „Wenn sie nicht wollen das uns jemand zusammen gehen sieht… also….“ Fragend blickte sie den Iren an und zuckte mit den Schultern. Als Gesetzeshüter konnte es natürlich tausend unverfängliche Gründe geben, weshalb er mit einer Hure sprach, aber am Sonntag nach dem Kirchgang mit ihr zum Bordell zu spazieren würde Graham vielleicht doch zu viel Gerede nach sich ziehen.
Matt u. Rebeccah am Portal zwischen den Leuten, Jake stösst dazu
Matt freute sich an Rebeccahs Lächeln, das nun mehr freudig und aufgeregt war, denn schüchtern und unsicher. Fast könnte er den Eindruck gewinnen, dass sie sich in seiner Nähe wohl und sicher fühlte aber vielleicht freute sie sich auch nur über seine Zustimmung zu ihrem Vorhaben, den Kroaten nach ihrem Vater sehen zu lassen. Rebeccah stützte sich auf seinen Arm und das ließ Matt annehmen, dass sie ihm nicht nur vertraute, sondern ihm auch zutraute, gut mit ihr umzugehen. Kurz warf er einen Blick auf die Familie, die gerade von der Dienerin Lady Craven angesprochen wurde. Die Kinder verhielten sich sehr still und gerade dieses Verhalten wollte ihn an Martha und Ben erinnern. Seine Geschwister taten ihm wirklich leid und er hofften noch immer, dass Martha nicht bestraft wurde, weil sie seine Haare kürzer geschnitten hatte, als es nötig gewesen war. Allerdings konnte er sich kaum vorstellen, was diese sonst noch ausgefressen haben könnte. Lady Craven und ihre Dienerin kannte er nur vom Sehen, weil diese , sehr selten zwar, aber eben doch ab und zu ihr Haus in der Lake Street verließen. Kurz nickte er Lady Craven zum Gruß zu , als er an ihr vorbei ging. Sie sah schlecht aus, aber das war für ihn kein ungewöhnlicher Anblick. Gerade bedankte sich Rebeccah bei ihm und wieder sprach sie leise und wie schüchtern. Eben doch ein Shy Girl.. "Alles für Dein Lächeln." Matts sprach mit viel Wärme und so leise, dass er wohl nur von ihr verstanden werden konnte. Rebeccahs Worte ließen sein Herz vor Freude schneller schlagen, denn diese hören sich in seinen Ohren so weich und warm an, dass er sich fast sicher war, dass sie ihn zumindest gern hatte. "Gerne wieder." Abrupt blieb er stehen, als ein junger Mann so plötzlich vor ihnen stand, dass Rebeccah sich erschrak. In dem Versuch zurückzuweichen geriet sie offenbar in Straucheln und weil dieser junge Mann selber ausrutschend, sie in dem Versuch sich wieder zu fangen, anschubste, griff sie ins Leere. Sie stieß einen leisen Schrei aus, von dem Matt nicht hätte sagen können, ob vor Schreck oder ob es ein Ausdruck des Schmerzes war. "Du schon wieder - Du lernst das nie, oder?!" Matt bemühte sich darum, nicht in Sorge um Rebeccah, die gerade erwähnte, sich vertreten oder verknackst zu haben, und Ärger zu schreien, aber dieser Ärger und unterdrückte Wut war ihm deutlich anzuhören. Rebeccah klammerte sich an ihm fest, so dass er diesem Callaghan nicht nachgehen konnte. Er hatte ihn sorfort erkannt und war fassungslos, als er sah, dass dieser ungerührt von Rebeccahs kurzem Aufschrei einfach weiter marschierte, als ob nichts gewesen sei. "Hey - Jake. Du könnest Dich zumindest entschuldigen, oder?! Diesmal rief Matt dem Kerl hinter her, bevor er sich dann wieder Rebeccah zuwandte. "Tut es sehr weh? Warte, ich stütze Dich." Sein Ärger richtete sich ausschließlich gegen diesen unmöglich Callaghan-Burschen, so dass er Rebeccah gegenüber mit ruhiger und warmer Stimme sprach. Er war tatsächlich ein bisschen besorgt, denn noch waren sie nicht einmal vom Kirchplatz herunter und hatten noch ein gutes Stück zu gehen. Eigentlich wollte er nicht, dass Rebeccah er in dem Fall erfuhr, wie streng sein Vater mit seinem Bruder verfuhr. Es war ihm vor ihr peinlich, so sie dem entnehmen würde, dass er ebenso hart geschlagen wurde - wie ein kleiner ungehorsamer Junge eben. So wollte er von ihr nicht gesehen werden und doch - wenn sie starke Schmerzen hatte, würde er Rebeccah wohl nicht zum Gästehaus sondern nur bis in sein Elternhaus begleiten, wo seine Ma ihr wenigstens einen Stützverband machen konnte.
Matt u. Rebeccah am Portal zwischen den Leuten, Jake stösst dazu
Gerade eben noch am Austausch kleiner Nettigkeiten, verbunden wohl mit einem Flirt, von dem Rebeccah nicht einmal wusste, wie man dieses Wort schrieb, befanden sie sich von einer Sekunde auf der anderen in eine etwas aufgeladenen Situation. Denn der junge Mann, der im Gehen herumfuhr war kein anderer als Jake Callahan, ein Mitschüler, der Rebeccah nicht gerade in guter Erinnerung geblieben war. Er war ein Rüpel wie er im Buche stand. Er war das glatte Gegenteil von Matthew. Dass dieser Matts sicher gut gemeinte Worte nicht auf sich sitzen lassen würde, war Rebeccah schon bewusst, noch bevor sie seinem wütenden Blick begegnete. Matt schien ihn anscheinend zu kennen, auch wenn er nicht mehr die Schule besuchte. Aber einen wie Jake kannte wohl die ganze Stadt. Zum Glück war Matt jedoch an ihrer Seite und konnte sie stützen, während er versuchte ihrem Mitschüler so etwas wie Benimm zu erklären. Ein hoffnungsloser Versuch, wie Rebeccah fand. Jake würde sich niemals entschuldigen. In der Schule und auf dem Pausenhof benahm er sich sonst auch rücksichtslos und tat gerne so, als gehöre ihm die Welt und nicht umgekehrt. Dass er überhaupt die Kirche besuchte erschien Rebeccah wie eine Überraschung. Aber daran war sicher seine Mutter 'schuld'.
"Es geht schon wieder," murmelte Rebeccah, als Matt sich kurz um ihr Wohlergehen sorgte. "Ich glaube es war nur eine ungeschickte Bewegung. Schau es geht schon wirklich," sie belastete ein wenig das Bein und verzog das Gesicht. Laufen würde sie schon können, aber sicher nur mit Matts Hilfe.
Jake, der gerade noch Elisa vom Kirchhof gehen sah, in Begleitung von Cassidy, fuhr herum, als er seinen Namen hörte. Laut und verärgert wurde er ihm hinter her gerufen. Verdammt, er hatte es doch eilig. Was wollte der Kerl jetzt nur von ihm? War doch nichts passiert? Entsprechend verärgert wandte sich Jake herum und betrachtete sich das Pärchen, das er fast umgerannt hätte. Rebeccah irgendwer... eine aus der Schule. Eine von den ganz besonders Heiligen. War ja ein ganz nettes Mädchen und hübsch noch dazu, aber so verdammt moralisch. Und der Kerl an ihrer Seite... nein, das durfte ja nicht wahr sein. Der Sohn vom Schnapsbrenner. Kurz blitzte Wut in seinem Blick auf, als er daran zurückdachte, wie dieser Matthew ihm beim Versuch Hühner aus dem McKay Stall zu stehlen erwischt hatte. Na ja, eigentlich hatte er dort nur nach frischen Eiern suchen wollen.
"Für was'n soll ich mich denn entschuldigen," verärgert kam Jake wieder näher. "Iss doch nichts passiert, oder?" Er sah Rebeccah an, die seiner Meinung nach mit dem Schrecken davon gekommen war. "Könnt ja genaus sagen, entschuldig ihr euch bei mir, weil ihr mir in den Weg gelaufen seid."
"Lass gut sein Matt," sagte Rebeccah leise, und legte beruhigend eine Hand auf seinen Unterarm. "Jake ist das nicht wert, wenn er nicht will lass ihn gehen. Der sucht sonst hier noch eine Rauferei."
"Ja, hör mal lieber auf die Bailey... Pantoffelheld," grinste Jake. "Ich hab echt wichtigeres vor, als dir beizubringen, mir nicht krumm zu kommen."
Da war sie wieder und sehr zu Grahams Gefallen äußerte sie auch gleich eine ähnliche Einschätzung des neuen Gottesmannes. Dabei hatte sie bisher einen gläubigen Eindruck gemacht, doch vielleicht verhielt es sich mit ihrem Respekt gegenüber dem Allmächtigen einfach anders als dem gegenüber seinen Verkündigern. „Ich nehme an, das trifft auf fast jeden zu. Manche verstecken es nur besser.“ erwiderte er deswegen mit einem lakonischen Schulterzucken. Seiner Erfahrung nach wies jeder ein Mindestmaß an Selbstverliebtheit auf. Es standen nur die wenigsten auch dazu. Zu seiner Überraschung schien Miss Rose ernsthaft besorgt um seinen Ruf zu sein, und plötzlich bemerkte er einen Hauch von Unsicherheit in ihrem Gebaren, der in starkem Kontrast zu der sonst weltgewandten und eleganten Mexikanerin nicht zu passen schien. Merkwürdigerweise weckte es in ihm den Wunsch, ihr die Beklommenheit zu nehmen. Abgesehen davon – auch wenn das von ihr wohl so gar nicht beabsichtigt war – lag ein ganz eigener Reiz darin, vor aller Augen nach dem Gottesdienst als erstes mit einer Hure ins Bordell zu marschieren. Wie sich erst die Klatschweiber darüber das Maul zerreißen würden. Wäre es nicht ein köstlicher Streich, so demonstrativ allen Moralvorstellungen der Leute ins Gesicht zu spucken? Der Gedanke machte es ihm völlig unmöglich sich still und heimlich mit Nevada davon zu stehlen. Und erst der Ruhm bei Gleichaltrigen, den es ihm einbringen würde. Er würde das tun, was jeder wollte, aber sich keiner traute. „Ach was.“ wischte er den Einwand deswegen mit einem breiten Grinsen zur Seite. „Ich hab' keinen Ruf zu verlieren, sollen sie doch schauen, bis ihnen die Augen aus den Höhlen fallen.“ In einer Geste, die er irgendwo gesehen zu haben glaubte, hielt er Miss Rose den Arm hin, damit sie sich einhaken konnte. Natürlich kam er sich dabei linkisch vor, und ihm fehlte auch der vornehme Beigeschmack, aber das kümmerte ihn gerade nicht. „Lassen Sie uns aber erst in der Station vorbeigehen, dann kann ich Ihnen ihre Habseligkeiten zurückgeben.“ schlug er vor. „Wenn Bonnie ihren Hintern mal herschwingen würde...“ Missmutig wo seine nichtsnutzige Schwester abgeblieben war, reckte er den Hals, um über den Kopf der Menge hinweg nach dem roten Schopf Ausschau zu halten. Er erblickte sie unweit ins Gespräch mit ihrer Arbeitgeberin vertieft und verspürte kurze Erleichterung. Bonnies Verhältnis mit Ms. Freeman war stets gut gewesen, sie war sogar mit deren Tochter Elisa befreundet und der Negerin traute er zu, im Notfall ein Auge auf das Barclaymädchen zu haben. In ihrer Gesellschaft war sie einigermaßen sicher und er brauchte kein schlechtes Gewissen haben, wenn er mit der Mexikanerin davonspazierte, beschloss er.
Ein ärgerlicher Ruf aus bekanntem Munde drang an sein Ohr und Graham drehte den Kopf, um neugierig zu sehen, was Matt zu seiner Forderung nach einer Entschuldigung verursacht haben könnte. Scheinbar hatte ein blonder Bengel dessen Begleitung angerempelt. Nicht, dass es so überraschend war, Matt in weiblicher Gesellschaft anzutreffen. War das nicht die Kleine, mit der er vorhin schon gesprochen hatte? Normalerweise hatte sein Freund doch einen besseren Geschmack. Die war doch bestimmt noch keine 14 und hatte neben einem bäuerlich-einfachen Gesicht auch noch einen Körper, dem so gar keine weiblichen Reize innehafteten. Also nach Grahams Meinung kein Grund einen Streit an zu fangen. Der blonde Junge, an dessen Namen Graham sich gerade zu erinnern versuchte, war jedenfalls stehen geblieben. Sie standen zu weit, um zu hören, was gesprochen wurde, aber nach dessen Gesichtsausdruck zu urteilen, hätte Graham seinen Wochenlohn verwettet, dass es nicht die geforderte Entschuldigung war, die da über die Lippen des Flegels kam. Vielleicht eine kleine Schlägerei? Er hoffte ja fast darauf, was wäre erfrischender als nach so einer langweiligen Predigt einen ordentlichen Boxkampf zu beobachten. Auch wenn er natürlich gezwungen wäre dazwischen zu gehen, bevor jemand zu Schaden kam. Ein echtes Kreuz mit dieser Pflicht. „Was ist denn da drüben los? Sehen wir nach?“ erkundigte er sich mit einem sensationsbegierigen Grinsen bei Nevada und zog sie mit sich in Richtung der Streitenden.
Matt u. Rebeccah am Portal zwischen den Leuten, Jake stösst dazu
Mit Erleichterung vernahm Matt Rebeccahs Worte, obwohl sie bei dem Versuch ihren Fuß wieder zu belasten, das Gesicht verzog. So ganz ausgestanden war die Angelegenheit wohl doch noch nicht, aber gerade als er sie danach fragen wollte reagierte Jake auf seinen Ruf. Na, bitte - geht doch. Im ersten Augenblick war Matt zufrieden und nahm an, dass Jake sich nun bei Rebeccah entschuldigen würde. Darin irrte er, denn Jake sah Rebeccah nur fragend an und hatte offensichtlich keine Ahnung, wofür er sich entschuldigen sollte. So, blöd kann doch Einer alleine gar nicht sein.[/i] "Ob Du vielleicht gerade Rebeccah geschubst hast?" Matt klang genervt, denn die nachfolgenden Worte Jakes waren so dreist, dass er sich wirklich über diesen Burschen ärgerte. "Wir dir im Wege - alles Klar." Matts Arger war deutlich zu hören und am Liebsten hätte er diesem Jake die Meinung gründlich gesagt. Aber da lag Rebeccahs Hand auf seinem Arm und ihre warme Stimme, die ihn bat, Frieden zu bewahren, in seinem Ohr. Er nicht, Du schon.. Mit einem leicht verächtlichen Achselzuckend war Matt bereits wieder dabei, sich von Jake ab- und Rebeccah wie zu zuwenden, als ihn Jakes Worte erneut erzürnten. "Sag, das noch mal! " Matt ballte seine Hand zur Faust, denn derlei Sprüche machten ihn wütend. Wie kam dieser Hühnerdieb dazu, ihn einen Pantoffelheld zu nennen? Eine Unverschämtheit - andererseits, was ginge es ihn an? Nach Matts Meinung sollte Jake sich einfach raushalten, denn ob er nun auf Rebeccahs Worte achtete, oder selbst entschied, das ein Jake Callahan es nicht wert war, sich in Schwierigkeiten zu bringen, konnte dieser weder wissen, noch ginge es ihn Etwas an. Jake schien ähnlich zu denken, denn er betonte, dass er ohnehin besseres vorhabe, als sich herum zu streiten. "Wohl wieder stehlen, was? Viel Erfolg." Matts Grinsen war fast boshaft, denn im Gegensatz zu Jake wusste er, dass seine Eltern mit den Geschwistern daheim waren. Weit würde Jake also nicht kommen, so das sein Plan gewesen war. "Lass uns einfach gehen, Rebeccah." Matt machte einen Schritt nach vorne und schickte sich an, mit ihr an Jake vorbei zu gehen. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass Graham offenbar ebenfalls mit einer jungen Frau im Gespräch war und dieses nun unterbrach, um sich in Bewegung zu setzen. Er schien auf ihn zuzukommen, so dass Matt diesem kurz zunickte. Er wollte nun wirklich nicht noch Graham den Grund für eine mögliche Prübelei erklären wollen und hoffte, dass Jake nun Ruhe gab.
Matt u. Rebeccah am Portal zwischen den Leuten, Jake stösst dazu, Graham und Nevada nähern sich
"Meine Güte, McKay," Jake verdrehte die Augen und warf Rebeccah einen warnenden Blick zu. Mit ihm würde sie es fünf Tage die Woche fast 12 Monate am Stück in einem engen Klassenraum aushalten müssen. Ganz zu schweigen von den Pausen. Dieser aufgeblasene Lackaffe von McKay, den mochte sie nach der Kirche für ein zwei Stunden genießen. War eh das erste Mal, dass er die Bailey mit einem Jungen sah. Dass sie sich ausgerechnet den wohl reichsten Bengel geschnappt hatte, mochte der Bailey überhaupt nicht ähnlich sehen. Auf jeden Fall erschwerte es ihm gerade unnötig das Leben. Denn jetzt, wo er sich nach Elisa noch einmal umblickte, war sie nicht mehr da und er wusste nicht wohin sie gegangen war. Prima!!!
"Du tust ja gerade so, als hätte ich sie umgerannt!", sein Blick ruhte unverwandt auf Rebeccah, die auch prompt Matt bat sich zu beruhigen, was Jake jedoch zu seiner Provokation gereizt hatte. Mit Erfolg wie der Junge zufrieden feststellen konnte. Denn McKay wandte sich zornig zu ihm erneut herum. Und sein Ton und die Körperhaltung sprach für sich. Jake, der nun dank den beiden nicht wusste, wohin Elisa entschwunden war, war deswegen entsprechend nicht minder wütend. Dennoch grinste er boshaft angesichts des Zorns in McKays Mienenspiel. "Was noch nicht genug?", höhnte Jake, verzog aber augenblicklich getroffen das Gesicht, als dieser Affe laut hinausposaunte, dass er ein Dieb sei. "Was hast du gesagt?", knurrte Jake aufgebracht und sah sich hastig um. Nein Elisa war wirklich nicht mehr da und hatte zum Glück nichts gehört. Auch der Sheriff war nicht da, wenn wohl sein Deputy, der sich gerade aus der Menge löste. Doch das war nichts was Jake aufgehalten hätte. Mit seiner Ruhe war es schlicht vorbei, denn McKay hatte ihn bei seiner Ehre gepackt. Und kein Südstaatler der Welt hätte das auf sich beruhen lassen.
Die Hände selbst zu Fäusten geballt ging er auf McKay zu, der gerade Rebeccah vorschlug weiterzugehen. Diese wiederum schien den Vorschlag für gut zu befinden, denn sie warf keinen Blick mehr über ihre Schulter und humpelte ein, zwei Schritte mit McKay los, wohl um an ihm vorbei den Kirchhof zu verlassen. "Feige Sau!", rief Jake ungeniert und zornig aus und packte Matt am Arm. "Spielst für das kleine Mädchen hier den Gentleman, aber ja nicht die Hände schmutzig machen, ja? Andere Leute beschuldigen, das kannst du. Wenn dir die heilige Rebeccah so viel Ärger wert ist, dich mit mir anzulegen, dann machen wir das richtig...", Jake hob bereits die Fäuste, um sich zu decken, bereit wie ein bissiger Terrier auf sein ausgesuchtes Opfer loszugehen.
Matt u. Rebeccah am Portal zwischen den Leuten, Jake stösst dazu, Graham und Nevada nähern sich
Auf Jakes dummen Spruch reagierte Matt gar nicht erst, aber den warnenden Blick, den dieser Rebeccah zu warf nahm er durchaus zu Kenntnis. Jake wusste genauso gut, wie er, dass er Rebeccah angerempelt hatte. Dass diese nicht gestürzt war, war nicht Jakes Verdienst, sondern nur dem Umstand zu verdanken, dass sie seinen Arm genommen hatte und so hatte einen Sturz verhindern können. "War doch laut genug.." murmelte Matt, denn er war sicher, dass Jake ihn sehr wohl verstanden hatte. Er hatte ihn offenbar mit seinen Worten getroffen, denn Jake fuhr fort, ihn zu provozieren. Natürlich verstand Matt dessen Worte und ihm war auch klar, dass er ihn damit hatte treffen wollen, aber er tat, als fühlte er sich in keiner Weise angesprochen. Ohne diese Worte zu ignorieren, sah er sich wie suchend um, und wandte dann seine Aufmerksamkeit Rebeccah wieder zu. Diese war immer noch bereit, mit ihm zu gehen und als er sah, dass sie humpelte ging er wieder ein wenig langsamer, als vorhin. Nicht nur konnte sie wohl kaum seinen gewohnt forschen Gang mithalten können, sondern ihm kam das sogar ein bisschen entgegen. Er hatte sich bisher nichts davon anmerken lassen und es nahezu völlig verdrängen können, aber sein Knie maulte ganz schön. Der Tritt Jerrys am Morgen gegen dieses, war offenbar nicht ganz ohne Folgen geblieben. "Tut es sehr weh?" Sein mitfühlendes Lächeln galt ausschließlich Rebeccah, bevor er Jake einen Blick zu warf. Das war wohl auch nötig, denn dieser schien auf eine Rauferei aus zu sein. Matt war nicht bereits, sich auf eine Schlägerei einzulassen, denn erstens war es das nicht wert und zweitens fehlte ihm schlicht die Zeit. Immerhin rechnete Joe im Gästehaus mit ihm und er wollte dort noch vor seinen Eltern ankommen. Dennoch war er nicht bereit, die höhnenden Worte Jakes auf sich sitzen zu lassen. Was wollte der Kerl bloß von ihm? "Komm runter, Jake." Sein Tonfall war ruhig und er achtete darauf, dass er nicht Aggressivität ausstrahlte, denn damit wäre nichts gewonnen. Objektiv betrachtet liefe Jakes Vergleich mit der Sau ohnehin ins Leere und das wusste Jake genau so gut wie er. Rebeccah wäre ihm wohl jede Schlägerei um ihretwillen wert, aber es ging hier ja gar nicht um sie. "Nein, Jake - an Dir mache ich mir nicht die Finger schmutzig." Fast hätte Matt gegrinst, denn damit hatte Jake ein geradezu klassisches Eigentor geschossen. So er ihm vorwarf, sich nicht die Finger schmutzig machen zu wollen, weil er sich nicht mit ihm prügelte, bezeichnete er sich doch glatt selbst als Dreck - wie dumm war das denn? Und feige war nicht er, sondern dieser Raufbold, denn im Gegensatz zu diesem, hatte er es nicht nötig,sich mit dieser in einer Scheune zu verstecken. Matt äußerte seine Gedanken nicht laut, denn erstens wusste Jake sicher, dass er sich mit seiner Beschimpfung gerade selber eine Grube grub und zweitens wollte er nicht Rebeccah erklären müssen, warum er überhaupt am Montag in dies Stelldichein Jakes geraten war. Nein, den Gefallen, sich auf eine Prügelei einzulassen, würde er Jake nicht tun. Dafür musste dieser sich schon einen anderen Dummen suchen. "Lass gut sein, Jake. " Matt atmete noch einmal tief durch, denn er fühlte gleichwohl Ärger und Wut auf den Burschen in sich aufsteigen. Es konnte wohl sein, dass Rebeccah ihn nun für einen Feigling hielt, aber in dem Fall wäre sie nicht die Rebeccah, die er erlebt hatte. Das passte nicht zu ihr, aber sie würde ihn ohne Zweifel für einen Schläger halten, so er sich jetzt auf eine Rauferei mit Jake einließe und das wurde ihm nicht gerecht.
Ben ahnte nichts von den schwerwiegenden Gedanken Abigails. Er strahlte und fühlte sich so zuversichtlich und fröhlich wie lange nicht mehr! Eifrig machte er bei jedem Schritt sinnvolle wie auch sinnlose Anstrengungen, ihr jede noch so kleine Schwierigkeit aus dem Weg zu räumen. Da führte er sie auf Umwegen um kleinste Anhäufungen von Schnee herum, damit ihre Rocksäume auch ja nicht feuchter wurden als nötig. Dann wieder suchte er sie mit seinem Körper gegenüber Passanten abzuschirmen, als sei sie eine Porzellanpuppe, die bei einer heftigen Berührung beschädigt werden konnte. Oder bedachte sie mit unzähligen kleinen Warnungen und Vorsichtsmaßregeln, sich nicht zu übereilen, nicht zu stolpern, oder mit Fragen, ob sie etwas benötigte oder wünschte, ob es ihr gut gehe und sie sich auch so freue wie er. Bei aller Unbeholfenheit seine Versuche einer gentlemanwürdigen Konversation und eines galanten Verhaltens merkte man ihm doch an, wie sehr er sich anstrengte. Der riesige Mann wirkte wie ein begeisterter kleiner Junge, der mit Feuereifer bei der Sache war. Ob und wie die Menschen um ihn herum auf sein Verhalten reagierten, schien ihn nicht weiter zu kümmern, und angesichts seiner Statur kam offenbar auch kaum jemand auf die Idee, sich verärgert über ihn zu zeigen. Allenfalls verwunderte oder ungläubige Blicke folgten dem ungleichen Paar.
Einige allerdings mußten ein dem heiligen Sonntag höchst unangemessenes Grinsen unterdrücken, denn es gab immerhin vereinzelte Bürger, die den Hünen mittlerweile erkannt hatten und ihre Nachbarn darüber aufklären konnten, wes Geistes Kind der Mann mit der Gestalt eines Bären war. Der war, ganz im Gegensatz zu seiner Nichtbeachtung aller übrigen Anwesenden, voll auf seine Abby konzentriert und suchte in ihrem Gesicht ständig Anzeichen dafür zu erkennen, ob sie glücklich und zufrieden war oder etwa nicht. Er selbst schwebte im siebten Himmel und hoffte inständig, ihr ginge es genauso. Immer wieder tätschelte er ihre Hand und grinste sie mit einer Mischung aus Verlegenheit und überschäumender Freude an. Auf ihre Worte erwiderte er nach einigen Versuchen, ungezwungen zu plaudern, schließlich gar nichts mehr, ließ sie lieber reden. Er brauchte einfach zu lange, um sich auf ihre Worte jeweils eine passende Antwort zurechtzulegen, den Ball wieder zu ihr zurück zu spielen. Und die Peinlichkeit der Pausen, die sich dadurch in die Länge zogen, spürte er durchaus. Allein mit ihr hätte ihm das weniger ausgemacht, immerhin wußte er, daß sie anders war als andere und ihn dafür nicht auslachte. Hier vor all den Menschen dagegen überließ er lieber ihr das Sprechen. Es beförderte seine ohnehin gute Stimmung nur weiter, wenn sie so munter vor sich hin plapperte. Wie das Gezwitscher eines kleinen Vogels klang das in seinen Ohren. Zu schnell, als das sein langsamer Geist hätte folgen können, doch wunderschön. Genießen aber konnte er auch, ohne zu verstehen.
Es entging Sarah nicht, wie Miss Tucker ihren Blick erwiderte, und sie hatte auch eine vage Ahnung, was diese damit zum Ausdruck bringen wollte. Allerdings stand sie angesichts der unausgesprochenen Frage oder Aufforderung der Erwachsenen recht hilflos. Sie war einfach nicht gut darin, Menschen etwas mit Nachdruck zu erklären oder zu sagen. Ihr eigenes Gespür für Stimmungen war sehr fein, weshalb sie weitaus mehr verstand, als man hätte annehmen mögen. Man mußte ihr kaum etwas mehrmals sagen oder verdeutlichen. Zugleich mangelte es ihr aber an der Fähigkeit, sich in ebenso erfolgreicher Weise mitzuteilen, wie sie die Äußerungen anderer zu deuten wußte. Daher richtete sich der Blick des Mädchens nun zu Eric, in dem Versuch, wiederum diesen um eine Vermittlung zu bitten. Sie hatte Miss Tucker doch gezeigt, wie man das machte, wenn man einen Arm angeboten bekam? Ihr war nicht recht klar, wie sie das noch deutlicher machen sollte. Außer natürlich, indem sie es einfach gesagt hätte. Wobei der Begriff einfach hier für sie noch nicht einmal zutraf... nichts auf der Welt wäre für sie weniger einfach gewesen, als in Gegenwart der ja doch noch recht fremden Frau und all der anderen Menschen mir nichts dir nichts draufloszureden.
Leider half auch ihr Onkel nicht weiter, obwohl er doch sonst nicht sonderlich schüchtern war. Es schien fast, als habe er den Mut verloren, um den sie ihn sonst so beneidete. Das Schweigen dehnte sich, die Blicke der beiden Erwachsenen – sie sah zwischen ihnen hin und her – wechselten hinüber und herüber, ohne daß jemand den nächsten Schritt gemacht hätte. Mit zunehmendem Unbehagen fragte Sarah sich, ob sie vielleicht doch lieber hätte still sein sollen, wie sie es sonst immer war. Wer nichts sagte, konnte schließlich auch nichts Falsches sagen und niemandem wehtun... Erleichtert sah sie jedoch schließlich Miss Tucker Erics zweiten Arm nehmen und sich bei ihm einhaken. Unwillkürlich atmete sie auf. Sie sah die Augen der Frau mit einem kleinen Zwinkern auf sich gerichtet und glaubte das als Zeichen deuten zu können, daß nun alles wieder in Ordnung war – was auch immer in Unordnung gewesen sein mochte. Denn die seltsame Pause, das ratlose Innehalten der beiden Erwachsenen, hatte sie zwar gespürt, aber nach wie vor nicht verstanden. Immerhin, sie reagierte sehr sensibel auf Mißstimmungen, und die schienen nunmehr erst einmal ausgeräumt. Das ließ auch ihre innerliche Verkrampfung sich etwas lösen.
Bemüht um einen würdigen Auftritt schaute sie sich von den Frauen in der Umgebung ab, wie sie ihre Röcke mit einer Hand rafften, wenn sie sich zum Gehen wandten, und versuchte die Geste mit ihrem Kleid in möglichst erwachsener Weise nachzuahmen. Die andere Hand hoch zu Erics dargebotenem Arm erhoben folgte sie ihrem Onkel und Miss Tucker mit schnellen Schritten, waren die beiden doch bei aller Rücksichtnahme auf ihre kürzeren Beine noch immer gezwungen, eine gewisse Mindestgeschwindigkeit einzuhalten. Es gehörte sich schließlich nicht, den Durchgang ins Freie für alle zu blockieren. Auf dem Platz angelangt blinzelte sie mehrmals zu Eric hoch, denn der Wind blies ihr einige Schneeflocken in die Augen. Kalt war es, ungemütlich kalt, besonders wenn einem die Windstöße unter das wunderschöne, aber nicht übermäßig dicke Sonntagskleid fuhren. Sie hoffte, daß man baldmöglichst wieder im Warmen wäre, selbst wenn es inmitten vieler Menschen sein mußte. Brrr...
Bescheiden neigte die kleine Haushälterin nochmals ihren Kopf, als Mr. Smith sich verabschiedete. An seinem kurzen Wortwechsel mit Clayton hatte sie sich nicht beteiligt und statt dessen einige Blicke mit der Frau des Arztes ausgetauscht. Diese hatte sich ebenso im Hintergrund gehalten, Emilys Blicke aber erwidert, und die junge Britin glaubte ein leises, schüchternes Lächeln auf ihren Zügen entdeckt zu haben, das es ihr trotz aller Fremdheit ein wenig wärmer ums Herz hatte werden lassen. Vielleicht würde Mrs. Smith sich ja auch bei den regelmäßigen Gesprächsrunden der Camdener Damen blicken lassen, wo bei einem Tee, etwas Gebäck und verschiedenen Handarbeiten in entspannter Atmosphäre Gerüchte und Neuigkeiten ausgetauscht wurden? Ihr jedenfalls war die Frau auf Anhieb sympathisch, und sie würde dankbar die Gelegenheit ergreifen, nett mit ihr zu plaudern. Beinahe vergaß sie ihre momentanen Sorgen bei der Vorfreude auf ein neues Gesicht in der Damenrunde. Erst die Stimme von Mrs. Smiths Gemahl riß sie wieder in die Wirklichkeit zurück, und ihr wurde bewußt, daß sie selbst ja noch gar nicht in einer so gesicherten und erstrebenswerten Position wie diese war – Emily gehörte noch nicht zum Kreis der verheirateten Damen und hatte bis vor kurzem auch noch nicht davon zu träumen gewagt, es könne jemals so sein.
Jetzt allerdings öffnete sie automatisch ihre Lippen, um die Anrede des Arztes, wie gewohnt, mit einem respektvollen, aber doch bestimmten "Miss..!" zu verbessern. Sie war es gewohnt, auf ihren Status als Unverheiratete zu pochen, denn im heimatlichen London wäre sie als Haushälterin ruiniert gewesen, ja, ein richtiggehendes Ärgernis, hätte man sie auch nur des engeren Kontakts mit einem Mann verdächtigt. Hier allerdings sah die Sache anders aus, oder nicht? Sie hatte bereits so oft davon geträumt, selbst die Frau des Hauses zu sein, einen Ehemann, ja, eine große Schar von Kindern zu haben – und es schien in diesem seltsamen, beängstigend regellosen Land nicht unmöglich. Daher schloß sie ihren Mund wieder, ohne ein Wort gesagt zu haben. War es geschmeichelte Eitelkeit, weil der Arzt sie offenkundig für eine Ehefrau hielt? Oder weibliche Unvernunft? Oder war es, weil sie John neben sich wußte und... irgendwie das Gefühl hatte, sie habe gar nicht mehr das Recht, sich als das auszugeben, was man im allgemeinen eine anständige junge Frau nannte? Eine, die sich tugendhaft jedes engen Kontakts zum männlichen Geschlecht enthalten hatte? Denn das hatte sie weiß Gott nicht! Auch wenn es nur einmal geschehen war... sie hatte den ersten Schritt aus dem biederen Status der quasi geschlechtslosen Haushälterin bereits vollzogen. Und sie wußte es. John wußte es. Und... noch jemand, der sie überrascht hatte, als sie...
Der kleinen rundlichen Frau wurde ein wenig blümerant, als sie an die Szene zurückdachte, in der sie vor lauter Schreck zum ersten Mal in ihrem Leben in Ohnmacht gefallen war. Und mit einem plötzlichen, unguten Gefühl sah sie sich scheu unter den Menschen um, die um die kleine Gruppe herum standen. Woher konnte sie schon wissen, ob nicht just neben ihr der- oder diejenige stand? Ob ihre Schande nicht bereits begann, die Runde zu machen..? Mit diesem mehr als unangenehmen Gedanken beschäftigt folgte sie Clayton und Mr. Waltham nach draußen in eine noch größere Kälte, fröstelte erneut und empfand mit einem Mal das Bedürfnis, den Blicken der Umstehenden möglichst bald zu entfliehen. Der Sheriff machte ihre vage Hoffnung jedoch sehr schnell wieder zunichte, denn er ließ keinen Zweifel daran, wohin ihr Weg sie als nächstes führen würde: In das Gästehaus, wo sie noch vor kurzem bei den Vorbereitungen mitgeholfen hatte und nun als Begleitung Claytons mit am Tisch sitzen sollte. Nach wie vor unter den Augen der Camdener Öffentlichkeit. Und danach, so ahnte sie, würde er sie auch nicht entlassen. Ganz im Gegenteil, ein Gespräch stand ihr noch bevor, ein sehr peinliches noch dazu... doch es blieb ihr ja wenig übrig. Ihm in dieser Angelegenheit einfach so zu widersprechen, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Daher senkte sie nur wieder den Kopf und murmelte ein leises ergebenes "Ja, sicher, Mr. Clayton." Mit einer automatischen Bewegung raffte sie ihre Röcke leicht, um hinter ihm her zu trippeln. Hätte er unter den Schirm ihrer Haube sehen können, ihm hätte sich in diesem Moment der Anblick einer wahren Armesündermiene geboten.
Mit einem wohligen Schauder nahm die Mexikanerin zur Kenntnis, dass sie sich nicht geirrt hatte. Als habe er Nevada wittern können waren seine Worte für sie bestimmt gewesen und trotz der versammelten Menschen hatte er ihre Annäherung gespürt.
Zumindest hat der Sternträger mich weder hören noch sehen können. Bestimmt hat er gewartet… klar will er die Sachen loswerden, aber….
Die ruhige Selbstsicherheit ließ den jugendlichen Deputy männlich wirken und unwillkürlich fühlte die junge Frau sich zu der verheißungsvollen Sicherheit hingezogen. Als wäre sie eine Lady bot der Bursche ihr hier auf dem Vorplatz der Kirche den Arm und die Mexikanerin schlang ohne zu zögern die Hand darum und legte sie auf seinem Unterarm ab. So sehr sie selbst sich so sehen wollte, das Freudenmädchen war alles andere als für die Umgangsformen außerhalb eines Saloons gerüstet und so unterstrich sie die vertrauliche Geste, indem sie mit den Fingern der anderen Hand die Außenseite seines Oberarms hinunterstrich. Ihre Hand ruhte nun oberhalb seines Ellenbogens und wie sie ihn so umfasst hielt blickte sie mit einem verschwörerischen Funkeln zu dem jungen Mann auf. Sie glaubte zu begreifen, dass er provozieren wollte und dieses Spiel reizte die Mexikanerin den Deputy weiter anzustacheln. Es spielte keine Rolle, ob er es seinem Mädchen, dem knurrigen Clayton oder seinen Alten zeigen wollte. In diesem Moment waren sie Verbündete. „Die sind doch ohnehin nur Neidisch, so mancher hier würde insgeheim gern mit ihnen tauschen wollen?“ Als wolle das Schicksal Graham noch einen Tritt in die bereits eingeschlagene Richtung verpassen brach unweit von ihnen Unruhe aus. Die Szenerie wirkte so abgedroschen, dass Nevada sich nicht die Mühe machte irgendetwas zu hinterfragen. Zwei Halbwüchsige Bengel und eine von den Dorfgören waren aneinander geraten und das verhieß eine Keilerei, die sich gewaschen hatte und bei der am Ende vermutlich alle mit einigermaßen heiler Haut und nicht mit den Füßen voran wegkamen. Der ältere von Beiden nickte Graham zu und obwohl Nevada nicht viel davon hielt wenn sich alle gegen den Schwächeren verbündete sprach doch aus jeder Geste von Jake eine Gewaltbereitschaft, die sie wie ein Pulverfass würde entzünden können. Zudem war er derjenige, der das Mädchen nicht hatte, somit schien er auch nichts verlieren aber alles gewinnen zu können. Statt sich von Graham hinterherziehen zu lassen drängte die Mexikanerin den Burschen entgegen und konnte es nicht lassen sogleich zu einem Schlag auszuholen, der bei den meisten Jungs in diesem Alter einen empfindlichen Nerv traf.
„Aber, aber… lasst doch den Jungen gehen. Der mag bellen, aber gegen einen von Euch hat der grüne Bengel ja keine Schnitte. Lasst ihn den Schwanz einziehen und sich allein davonschleichen.“ Mit zuckersüßer Stimme provozierte sie den ihr fremden jungen Mann und schenkte ihm dabei einen so spöttischen Blick, dass sie meinte, der Bursche werde wohl gleich heulend wegrennen, statt seinen Mann zu stehen. Hoffentlich nur stürzt Jake sich auf seinen Nebenbuhler und das Mädchen, die anständige und scheinheilige Jugend hier kann mal ein bisschen Feuer gebrauchen. Dann kann Graham die Beiden am Ende trennen und wenn er sein Ego als Held aufpoliert hat und ich ihm danach ein bisschen Zuckerbrot gebe wird mir der Sternträger nichts abschlagen können.
Eric, Sarah und Selina auf dem Kirchplatz in Richtung Lake Street Matt, Rebeccah & Jake am Portal zwischen den Leuten, Graham und Nevada nähern sich [/size]
pp - In der Kirche
Als die Drei durch das Portal nach draußen schritten, hielt die Schmiedin einen Moment die Luft an. Doch zu ihrem Glück – und damit meinte sie eher jenes von Eric und Sarah – war der Kirchenplatz relativ leer gefegt und nur eine kleine Gruppe schien sich noch hier aufzuhalten, während die meisten Camdener entweder die Wärme des eigenen Zuhauses suchten oder bereits auf dem Weg zum Twin Falls für den Empfang von Reverend Stevenson waren. Dann würden sie wenigstens von schiefen Blicken verschont bleiben. Die kleine Gruppe würde sich wohl eher weniger für sie interessieren, so hoffte Selina doch zumindest. Unter ihnen erkannte Selina Matthew McKay und auch der junge Barclay stieß gerade dazu. Allein die Beiden hatten zuhause wohl genügend eigene Sorgen… außerdem schien sowieso gerade ein Problem vorzuliegen, denn der Jüngste in der Gruppe hatte eine recht aggressive Ausstrahlung gegenüber Matt. Ob es schlichtweg um das Mädchen ging, das da bei ihnen stand? Letztendlich kümmerte es Selina nicht wirklich, sowas mussten sie unter sich ausmachen. Es sollte nicht überheblich wirken, denn so war die Schmiedin nicht, und doch schenkte sie der kleinen Gruppe im Vorbeigehen keine größere Aufmerksamkeit, außer eben einen kurzen Blick. Gerade war sie froh, wenn sie einfach nur in Ruhe gelassen wurde, da wollte sie sich sicher nicht in fremde Angelegenheiten einmischen.
Als sie die Stufen hinunter gestiegen waren und in Richtung Lake Street liefen, sah die Schmiedin dann noch einmal seitlich an Eric hoch. Er hatte kein Wort gesprochen, seitdem sie aufgebrochen waren, und doch sprachen seine Züge eine deutliche Sprache. Er schien einfach nur froh zu sein, und das bestätigte Selina, dass sie eben doch das Richtige getan hatte. Erst einmal waren sie zumindest auch vor schiefen Blicken sicher, zumindest bis sie das Twin Falls erreichten. Aber bis dahin waren es ja zum Glück noch einige Schritte… „Sie wissen das sicher selbst, aber was wir hier tun, ist sehr gewagt.“, setzte die Schmiedin nach einigen Schritten schließlich an, hatte den Blick dabei aber schon wieder nach vorne gerichtet. Ihre Stimme klang dabei keineswegs vorwurfsvoll, es war eher eine simple Feststellung. Ein wenig nachdenklich zog sie die Stirn zusammen, ehe sie dann doch wieder den Blick von Mr. Malone suchte. „Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Mr. Malone. Ich möchte nur Unannehmlichkeiten für Sie und Sarah vermeiden. Ich bin es gewohnt, dass man mich schief ansieht.“ Ihr Blick wanderte kurz zu Sarah und sie lächelte dieser sachte zu. Nein, diesem Mädchen wollte sie sicher nicht Böses. Und doch würde auch sie mit Skepsis betrachtet werden, wenn sie tatsächlich in dieser Konstellation im Gästehaus auflaufen würden. Als ob sie eine Familie wären, dabei kannten sie sich doch gar nicht. Allerdings spielte diese Fremde für Selina momentan gar keine Rolle… auf irgendeine Art und Weise war Eric ihr vertraut, obwohl sie genau wusste, dass das doch eigentlich nicht sein konnte. Tatsache war jedoch, dass sie sich in seiner und auch Sarahs Nähe wohl fühlte. Sie hatte ja noch nie großartige Scheu vor der Fremde gehabt, aber hier war es etwas anderes. Sie fühlte sich fast schon zu den beiden hingezogen. Ein seltsames Gefühl…
Ihr Blick richtete sich wieder nach vorne, während sie die Antwort von Mr. Malone abwartete. Vielleicht würde sie sich einfach wieder aus seinem Arm aushaken, bevor sie das Twin Falls erreichten. In der Lake Street hatten sie ja noch ihre Ruhe, da konnten sie diesen Moment noch ein wenig genießen. Aber für den Auftritt im Gästehaus war es sicher zu gewagt. Gewagt war es eigentlich schon, dass sie zusammen dort auftauchten. Man hatte ja gesehen, welches Ausmaß das schon beim Gottesdienst gehabt hatte (wobei da vermutlich auch ihre kleine Verspätung eine Rolle gespielt hatte, doch sei es drum). Gott, ihre Mutter würde ausrasten. Sie hatte sie vorhin in der Kirche schon dabei beobachtet, wie sie resignierend mit der Hand über ihr Gesicht gefahren war. Den Blick ihres Dads hingegen hatte sie nicht ganz deuten können. Sie hatte ihn kurz gesehen, als sie die Kirche verlassen hatten (ihre Mutter hatte sie ja vollkommen ignoriert), während Selina noch bei Eric und Sarah sitzen geblieben war. Vermutlich konnte sie ihn nicht einschätzen, weil Henry ähnlich dachte wie sie. Ein wenig hin und her gerissen, ob es gut war. Nicht, ob es richtig oder falsch war. Innerlich seufzte die Schmiedin darüber, verwirrten sie diese Gedanken doch zusehends. Hoffentlich konnte Mr. Malone ihr helfen. Egal wie. Entweder teilte er ihre Meinung, oder… oder was? Etwas anderes kam eigentlich nicht wirklich in Frage, sonst würden sie hier wohl kaum in dieser Konstellation die Straße entlang laufen…
tbc - Lake Street
[size=85]((ooc: Vielleicht sollten wir dann bald in die Lake Street umsiedeln? Wir treten ja sicher nicht ständig auf der Stelle umher ))
Draußen auf dem Platz vor dem Gotteshaus war es wieder sehr viel kälter doch Witashnah war das nicht unangenehm. Ihre Felljacke wärmte sehr schön.
Auf ihre Frage hatte Jethro bestätigt, dass der Teil der Feier jetzt vorüber war aber dass es auch noch einen zweiten Teil geben würde. Zu ihrer Überraschung würde der in dem Gästehaus stattfinden. Witashnah runzelte etwas verwirrt die Stirn. In einem Gästehaus? Irgendwie konnte sie solch ein Haus nicht wirklich mit Spiritualität, feierlichen Gesängen und vielleicht irgendwelchen Opfern in Einklang bringen. Aber vielleicht dachte sie auch falsch und die Weißen taten solche Dinge ja gar nicht.
Die Erinnerung an Jethros eigenes Haus direkt daneben war keine eben glückliche. Sie hatte dort kochen sollen. Das gute Essen von Tadewi. Für irgendwelche Weiße, die das ganze nur naserümpfend angeschaut hätten. Nein, das Haus gefiel ihr gar nicht gut. Dass da ein weiteres Haus für den Gott sein sollte... ein sonderbarer Gedanke.
Die kleine Krähe hatte aber schon deutlich gemacht, dass er gern diese zweite Feier mitmachen wollte, was immer dort geschehen würde. Es sei wohl der Höhepunkt der Freier. Jethro schien aber noch unschlüssig zu sein, ließ sich vielleicht aber dazu bewegen, sie beide zu begleiten. Immerhin hatte der Gottesmann ja gesagt, dass alle willkommen seien. Die wichtigste Frage aber die sich ihr stellte war, ob sie sich selber wohl bei einer solchen Feier wohlfühlen würde. Aber vielleicht war das ja auch wieder der falsche Ansatz. Sie wusste ja nicht einmal, was das für eine Feier sein würde. Sie sah Jethro an, dann ihren Sohn, dann atmete sie einmal tief durch. "Ich möchte gehen dort. Ja. Wenn Du mit kommst."
Wie durch einen Schleier verborgen schien die Umgebung undeutlich und nicht greifbar. Justine hatte den Blick starr nach vorn gerichtet, verfolgte den Gottesdienst jedoch nicht. Durch die Bank kroch die eisige Winterkälte aus dem Boden empor und die junge Frau konnte spüren, wie sich tastend die Tentakel dieser tödlichen Starre an ihr emporwanden. Die Kranke fühlte sich ruhig und es dauerte nicht lange, bis die morbide Sehnsucht sich ihrer Phantasie vollends bemächtigte. Am liebsten wäre sie aufgestanden, um hinaus zu gehen und sich in einem Bett aus Eis Morpheus hinzugeben. Auf dramatische Weise malte sie sich aus, wie man ihren steifen und leblosen Körper finden würde und sah mannigfaltige Szenarien vor ihrem inneren Auge Gestalt annehmen. Die aufregendsten und besten Szenen hatten jedoch wenig mit ihrem Leben gemein, denn hier gab es sicher keinen heimlichen Verehrer und auch keine verschollene Schwester, die sich aus Gram über ihr Ableben die Augen ausweinen würden. Irgendwann wurde sie unvermittelt aus ihren Gedanken gerissen. Erst da wurde sie gewahr, dass der Gottesdienst vorüber sein musste, denn Ava war zur Stelle, um sie abzuholen. Die klamme Starre wollte nicht aus ihren Gliedern weichen und als Ava sie hochzog und aus der Kirche führte fühlte Justine sich ungelenk wie eine Holzpuppe. Unbeholfen stützte sie sich auf ihr Dienstmädchen und schloss für einen Moment die Augen, als ein Anfall von Schwindel sie übermannte. Sie verstand genug, um zu begreifen, dass es darum ging den Arzt zu konsultieren, so ließ sie sich ohne Protest von ihrer Magd mitziehen. Der Atem der sonst bettlägerigen ging schwer, als sei sie gerannt und sie öffnete die Augen erst, als sie stehenblieben. Da erklang auch schon die sonore Stimme eines Mannes und ein ihr fremder gutaussehender Gentleman kam näher und beugte sich zu ihr hinunter. Im Anbetracht ihres Zustandes fühle die junge Frau sich unwohl, denn sie konnte sich vorstellen, was ein Mann wie der Doktor von einer Vogelscheuche wie ihr halten mochte. Solange ich bezahle wird es ihm völlig gleich sein. Als Arzt hat er schon ganz andere Sieche erblickt! Justine bemerkte, dass der Zugezogene seine Familie warten ließ und so räusperte sie sich rasch, um den Doktor nicht länger als nötig aufzuhalten oder seine Geduld weiter durch ihr dummes und sprachloses Starren zu strapazieren. „Es freut mich ihre Bekanntschaft zu machen Dr. Smith. Entschuldigen sie, dass ich sie am Tag des Herrn belästige.“ Sie bemühte sich laut und deutlich zu sprechen, doch der schnelle Atem zeugte noch immer von der Anstrengung, die diese Unterredung und der Kirchgang für Justine bedeuteten. „Es freut mich außerordentlich, dass endlich wieder ein Mediziner in der Stadt ist, denn wissen Sie ich bin schon lange krank. Wenn es ihnen recht ist werde ich mein Dienstmädchen nach Medizin schicken dann können sie sich mit einem Hausbesuch Zeit lassen und sehen wann es ihnen im Verlauf der nächsten Tage passt. Ich wohne gleich hier in der Lake Street.“ Kraftlos hob die Kranke die linke Hand und deutete auf ein gelb gestrichenes Haus.